Extrem lebensnah: Wie ein deutscher Straßenfotograf das Wesen der Playa de Palma einfängt

Seit mehr als 20 Jahren streift Holger Biermann als Straßenfotograf durch Städte. Im Juni tauschte er Berlin gegen Ballermann – entstanden sind ganz besondere Mallorca-Bilder

Schnappschuss von der Playa: Licht und Farben auf Mallorca haben es Biermann angetan.

Schnappschuss von der Playa: Licht und Farben auf Mallorca haben es Biermann angetan. / Holger Biermann

Brigitte Rohm

Brigitte Rohm

Holger Biermann (49) hält sich nicht lange mit der Begrüßung auf. „In erster Linie geht es ums Wandern. Ich wandere den Strand rauf und runter, jeden Tag sieben oder acht Stunden“, sagt der Fotograf beschwingt, und marschiert direkt wieder los an der Playa de Palma. Der größte Teil dieses Gesprächs findet im Laufen statt. Es ist der 29. Juni, und Biermann – drahtig, mit einer handlichen Analog-Kamera und in Funktionskleidung wie bei einer Exkursion, um in der Tramuntana Vögel zu beobachten – hat den ganzen Monat nichts anderes getan als an der Promenade und in den Straßen dahinter zu fotografieren. 50 Filmrollen sind voll, rund 1.500 Bilder im Kasten.

Möglich gemacht hat das ein künstlerisches Kooperationsprojekt des Künstler-Quartiers Espai Sant Marc von Marcos Vidal in Sineu und den Lichtenberg Studios in Berlin, wo zeitgleich der auf Mallorca ansässige Künstler Javier Peñafiel arbeiten durfte. Das Thema war völlig frei. Biermann kannte die Insel nur von einem Besuch im Jahr 1996, hatte noch nie am Strand fotografiert. Mit über den Knöcheln hochgekrempelter Hose durch das Wasser zu gehen, bereite ihm fast kindliche Freude, sagt er. Und er wollte einmal die Playa de Palma erleben und herausfinden, wie es dort zugeht. „Das ist für die Deutschen einfach zu wichtig“, so der Wahl-Berliner, der in einem Dorf bei Bremen geboren ist.

Von New York nach Berlin

Eigentlich sind urbane Räume sein gängiges Revier. „New York ist die Stadt der Straßenfotografie“, sagt Biermann, der 2001 in der Metropole wohnte und dort zu dem künstlerischen Genre fand, das ihn so begeistert. Auslöser dafür war der 11. September, den er hautnah miterlebte. Ihm sei klar geworden, wie kurz das Leben ist und dass man seine Zeit den Dingen widmen sollte, die man gerne tut. Zurück in Deutschland blieb er bei der Straßenfotografie, zeigt seine Werke heute in Ausstellungen, bekommt Stipendien. 2020 war er Resident der Michael Horbach Stiftung in Köln.

Durch den Künstler Uwe Jonas, der die Residenz im Bezirk Lichtenberg aufgebaut hat, fand Biermann zu der Ausdrucksform, nach der er gesucht hatte: dem Booklet im Postkarten-Format. „Im Gegensatz zu einem Buch kann man es immer mitnehmen, vorzeigen oder gegen ein Bier eintauschen“, erklärt der Fotograf. Die Hefte seien wie die Straßenfotografie selbst: simpel, aber aussagekräftig und auf den Punkt. 22 Booklets mit je 40 Fotos hat Biermann bislang publiziert. Die Mallorca-Bilder sollen im November erscheinen, auch sind eine Ausstellung in Berlin und 2024 eine Schau auf der Insel geplant.

Ziellos wie der Wind

Eigentlich will Biermann es an diesem Tag Ende Juni gut sein lassen, er habe eigentlich mehr als genug Material. Doch ganz kann er es nicht lassen. Nach fünf Minuten strammen Wanderns zückt er zum ersten Mal die Kamera. Mit einem lässig-flüssigen Schwenk aus der Hüfte heraus fotografiert er eine Gruppe Urlauber mit Vokuhila-Perücken, Goldkettchen mit Dollarzeichen-Anhängern und Leo-Print-Badehosen. Sie mühen sich ab, einen Sonnenschirm zu stabilisieren. „Ziellos wie der Wind versuche ich, Situationen zu finden, die bildwürdig sind. Ich weiß nicht, wie die aussehen, aber ich weiß immer, wenn sie da sind“, erklärt der 49-Jährige. Im besten Fall erfahren diese Momente dann eine gewisse Verdichtung, bilden eine Komposition mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund, zeigen Charaktere. So entstehen Bilder komplexer, starker Situationen, die für sich stehen können wie Malerei.

Stärke, Schwäche, Ekstase: Holger Biermann liebt die Menschen und ihre Feste. Mit seiner Straßenfotografie hält er das gesamte Spektrum fest.

Stärke, Schwäche, Ekstase: Holger Biermann liebt die Menschen und ihre Feste. Mit seiner Straßenfotografie hält er das gesamte Spektrum fest. / Holger Biermann

Das Gehen sei die Grundvoraussetzung für Straßenfotografie: Denn die Bilder kommen nie zum Fotografen – nur wenn er selbst und die anderen in Bewegung sind, passiert etwas. Und das funktioniert natürlich nie nach Plan. Doch das Wort „Chaos“ ist Biermann zu negativ. Er glaubt vielmehr an einen Kosmos, in dem das Durcheinander irgendwie geordnet ist – und dass es sich lohnt, zu diesem Durcheinander Vertrauen zu haben, sich hineinzustürzen, es zu bejahen und zu feiern. „Wer an Straßenfotografie Freude hat, hat Freude am Bilderschauen, an guten Kompositionen, an Bewegung und am Leben selbst“, sagt er.

Ein Foto von der Playa de Palma.

Ein Foto von der Playa de Palma. / Holger Biermann

Porträts ergänzen das Projekt

Bekanntlich zeigt sich das Leben an der Playa aber nicht immer von seiner Schokoladenseite. „Natürlich gab es auch diese Szenen, wo Leute um vier Uhr nachmittags völlig fertig in ihrem eigenen Erbrochenen lagen. Aber das sind nicht die schönsten Momente, und das habe ich auch nicht fotografiert“, sagt Biermann. Er möchte niemanden bloßstellen. Und er verurteilt nicht, er beobachtet. Wer die Menschen liebe, der liebe auch ihre Feste. Dass die deutschen Playa-Urlauber viel trinken, sei eher deshalb schwierig gewesen, weil Gruppen unter sich blieben, man nur schwer hineinkäme. Ärger habe er sich aber kaum eingehandelt. Bei potenziell unangenehmen Situationen geht Biermann einfach weiter.

Ein Foto von der Playa de Palma.

Ein Foto von der Playa de Palma. / Holger Biermann

Damit es nicht einseitig wird, fotografierte er nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische – das ganze Bild vom Ballermann. Manche Menschen wollten gerne von sich aus vor die Kamera. Und Biermann ging dazu über, neben den intuitiv geschossenen Fotos auch gezielt nach Porträts zu fragen. So wurde am Ende sogar die MZ-Redakteurin noch unerwartet Teil seines Kunstprojekts.

Mehr Fotos sehen: Auf holger-biermann.de gibt es Eindrücke weiterer Projekte. Das Playa-Booklet soll voraussichtlich Ende des Jahres erscheinen.

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