Der 6. und 7. Juni 1940 waren unheilvolle Tage für deutsche Juden, die auf den Balearen Zuflucht vor Nazi-Deutschland gesucht hatten. Die Sicherheitsabteilung von Diktator Francisco Franco verfügte die Ausweisung von rund 30 Männern und Frauen, die zu dieser Zeit noch auf den Inseln lebten. Die Begründung des Regimes lautete schlicht: „Im Hinblick auf Ihre Vorgeschichte und aufgrund Ihrer Herkunft sind Sie unerwünscht für das neue Spanien". Die Soziologin und Historikerin Marta Simó Sánchez hat über Spaniens Rolle im Holocaust an der Universitat Autònoma de Barcelona promoviert. Vergangene Woche sprach sie darüber im Rahmen der Tagung „Franco i la persecució del jueus" (Franco und die Judenverfolgung). In Ca n'Oleo, dem Sitz des balearischen Kulturministeriums, wurde zeitgleich die Ausstellung „Jueus refugiats a les Illes durant l'Holocaust" eröffnet (Jüdische Flüchtlinge auf den Inseln während des Holocaust).

Weiß man, wie viele Juden aufgrund der Mithilfe des Franco-Regimes nach Deutschland ausgeliefert wurden und dort ums Leben kamen?

Nein, genaue Zahlen gibt es nicht. Viele sind ja auch nicht auf direktem Weg von Spanien nach Deutschland gebracht worden. Einige waren zunächst in Frankreich, einige haben sich auch gerettet. Und bei denen, die direkt nach Deutschland deportiert wurden, verliert sich in den allermeisten Fällen die Spur.

Wie viele Juden gab es zu diesem Zeitpunkt in Spanien?

Ich gehe von 6.000 bis 7.000 aus. Die meisten kamen irgendwann aus Deutschland, aber auch vom Balkan. Aufgrund des Bürgerkriegs in Spanien herrschte Chaos, auch deswegen ist es unmöglich, eine exakte Zahl zu nennen. Wir rekonstruieren sehr viel auf der Basis von persönlichen Schicksalen, über die es Schriftstücke gibt. Eine große Hilfe ist auch das Archiv der Shoah-Stiftung von Steven Spielberg, dank der es Filmmaterial von immerhin 550 nach Spanien geflüchteter Juden gibt.

In Spanien gab es keine offizielle Rassenpolitik gegen die Juden wie in Deutschland. Warum hat das Franco-Regime trotzdem nach den deutschen Kriterien gehandelt?

Das liegt an zwei Gründen: Zum einen ist Spanien traditionell ein antisemitisch geprägtes Land. Das Thema Nationalismus war schon immer stark mit dem Katholizismus verwoben. Und der lehnte das Judentum ab. Zum anderen lag es an der Falange (1933 gegründete faschistische Bewegung, die 1937 in Francos Staatspartei aufging, Anm.d.Red.). Die Falange nährte sich von den faschistischen Strömungen in Europa in den 30er-Jahren. Die Verbindung zu Deutschland war eng, Nazi-Deutschland half dem Franco-Regime im Bürgerkrieg, beide Regime teilten Ideologien, Programme, so etwa für die Jugend oder die Frauenbewegung. Auch arbeiteten rund 10.000 Spanier in den Konzentrationslagern. Sie waren im Zuge der Zusammenarbeit beider Länder nach Deutschland geschickt worden und dort fest angestellt.

Marta Simó Sánchez in Palma.

Übte Deutschland Druck auf Spanien und Franco, damit die Juden ausgeliefert werden?

Nein, das war gar nicht nötig. Das Franco-Regime lieferte die Juden freiwillig aus.

Wie lief die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Spanien generell ab?

Die nationalsozialistische Partei war auch in Spanien fest verwurzelt. Es gab ja sogar eine Hitlerjugend in Spanien. Auch in den deutschen Schulen in Spanien oder über die Botschaft arbeiteten beide Regimes zusammen. Deutschland bat unter anderem um vollständige Listen aller in Spanien lebenden Deutschen, nicht nur der Juden.

Welche Rolle spielte die katholische Kirche bei der Judenverfolgung?

Die Kirche lehnte zwar das Judentum aus religiösen Gründen ab, es gab aber viele Priester und Bischöfe, die sich einer durch Rassegründe bedingten Judenverfolgung widersetzten. Manche Priester halfen den Juden aktiv dabei, zum christlichen Glauben zu konvertieren. Andere setzten sich auf andere Weise für Juden ein. Unter anderem ist der Fall eines jüdischen Paares mit slowakischen Wurzeln überliefert. Die beiden wollten bei Irún über die Grenze nach Frankreich, was ihnen versagt wurde. Also fuhren sie quer durch Nordspanien und versuchten, nahe Girona über die Grenze zu kommen. In der Zwischenzeit hatte ein slowakischer Bischof einen Brief geschrieben, in dem er sich für sie einsetzte. Mithilfe dieses Briefes konnten sie dann die Grenze überqueren. Auch Fälle von Nonnen sind bekannt, die jüdischen Kindern dabei halfen, über die Grenze zu kommen.

Sie warnen davor, dass wir nicht wieder dieselben Fehler machen dürfen und die Flüchtlinge wie damals die Juden vor verschlossene Türen stellen. Gibt es so viele Ähnlichkeiten?

Die Geschichte wiederholt sich fast eins zu eins. Die Konferenz 1938 von Evian lief nach demselben Muster ab wie die heutigen Treffen der europäischen Staatschefs, wenn sie über die Verteilung der Flüchtlinge reden. Niemand wollte und will Flüchtlinge aufnehmen. Das Schicksal der Irrfahrt der „St. Louis" gleicht dem der heutigen Open-Arms-Schiffe. (Die „St. Louis" war ein Flüchtlingsschiff mit 937 nahezu ausnahmslos deutschen Juden, das Kurs auf Kuba genommen hatte, aber weder dort noch in den USA oder Kanada anlegen durfte. Es musste schließlich in Antwerpen einlaufen. Forscher gehen davon aus, dass etwa 254 der Flüchtlinge später von den Nazis ermordet wurden, Anm.d.Red.). 1939 durften die Juden in dem Schiff keinen Hafen anlaufen, so wie heute die Schiffe mit den Flüchtlingen hin und her geschickt werden. Es ist eine Schande. Schuld daran ist diese Haltung, die wieder salonfähig geworden ist und von ultrarechten Gruppen genährt wird: Die gehören nicht zu uns, das sind Fremde.

Was geht Ihnen einen Monat vor den Spanien-Wahlen durch den Kopf, wenn Sie eine Partei wie die rechtsextreme Vox sehen?

Ich habe schreckliche Angst, denn Ansichten, wie sie diese Partei vertritt, sind äußerst gefährlich. Man sieht viele Ähnlichkeiten zum Franco-Regime und zum National­sozialismus. Bislang waren es ja eher Gruppierungen im Abseits, aber inzwischen sind die Positionen dieser Parteien weitverbreitet. Das ist das Gefährliche.