Ausführliche Analyse: Ist nach der Wahl in Spanien vor der Wahl?

Dem PP-Spitzenkandidaten Feijóo fehlt die nötige Regierungsmehrheit. Aber auch für den Sozialisten Sánchez ist die Lage kompliziert. Wie es weitergeht

So war die Siegesfeier nicht geplant: Alberto Núñez Feijóo (li.) und Isabel Ayuso (re.) im Konfetti-Regen.    | FOTO: JOSÉ LUIS ROCA

So war die Siegesfeier nicht geplant: Alberto Núñez Feijóo (li.) und Isabel Ayuso (re.) im Konfetti-Regen. | FOTO: JOSÉ LUIS ROCA / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Spanien droht nach dem Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen vom vergangenen Sonntag (23.7.) eine Wiederholung im Winter. Denn die Sitzverteilung im Unterhaus ist äußerst kompliziert ausgefallen. Es fehlen noch die Stimmen der Wahlberechtigten im Ausland, die am Freitag (28.7.) ausgezählt werden und noch für minimale Verschiebungen sorgen könnten. Doch steht bereits fest, dass Premier Pedro Sánchez der einzige Anwärter mit realen Machtoptionen ist, obwohl seine Sozialisten (PSOE) mit 31,7 Prozent der Stimmen hinter der konservativen Volkspartei (PP) mit einem Anteil von 33,0 Prozent blieben.

Das neue Unterhaus tritt am 17. August zusammen. König Felipe VI. muss dann nach Konsultationen mit allen Parteien einen Kandidaten für die Wahl zum Ministerpräsidenten vorschlagen. Dies ist eine der wenigen politischen Befugnisse des Staatsoberhauptes. Vor sechs Jahren schlug der damalige konservative Regierungschef Mariano Rajoy das Angebot des Königs aus, da die PP nicht die nötigen Stimmen im Parlament hatte. Es kam zu Neuwahlen, die Rajoy für sich entschied.

Die Optionen von Feijóo

Sein Nachfolger Alberto Núñez Feijóo scheint entschlossen, sich im Unterhaus zur Wahl zu stellen, obwohl er keine Aussichten auf Erfolg hat. „Den Versuch ist es wert“, sagte er auf einem Treffen der PP-Spitze am Dienstag. Er habe bereits Kontakte zu anderen Parteien aufgenommen habe, um eine Mehrheit auszuloten. Mit der rechtsextremen Vox, die auf 12,4 Prozent der Stimmen kam und von 52 auf 33 Sitze gestutzt wurde, und dem einzigen Abgeordneten von UPN aus Navarra kommt das rechte Lager auf 170 von 350 Parlamentarier im Unterhaus, vorbehaltlich der Auslandswahlzettel. Der Block aus den linken Parteien der bisherigen Minderheitsregierung und den Nationalisten, die sie gewöhnlich unterstützen, hat demnach 172 Sitze. Im ersten Wahlgang zum Ministerpräsidenten bedarf es einer absoluten Mehrheit, im zweiten Durchlauf reicht dann eine einfache Mehrheit, also mehr Ja- als Nein-Stimmen.

Núñez Feijóo buhlt daher um weitere Unterstützung. Doch die konservativen baskischen Nationalisten der PNV, die in früheren Zeiten mit der PP kooperiert hatten, schlossen kategorisch aus, dass ihre fünf Abgeordneten Núñez Feijóo zum Regierungschef machen, wenn dieser gleichzeitig auf Vox angewiesen ist. Die Rechtspopulisten wollen die Autonomen Regionen abschaffen und regionale Sprachen wie Baskisch einschränken. Sogar die Regionalpartei CC von den Kanaren hat Bedenken, ob sich ihre einzige Parlamentarierin einem Block aus PP und Vox anschließen soll.

Plan B ist ein Rohrkrepierer

Auch Plan B von Núñez Feijóo ist ein Rohrkrepierer. Schon während des Wahlkampfes bestand der Kandidat täglich darauf, dass die Partei mit den meisten Stimmen und Sitzen Anspruch auf das Regierungsamt habe. „Noch nie wurde in diesem Land der Wahlverlierer zum Ministerpräsidenten gemacht“, erklärte Núñez Feijóo am Wahlabend. Er habe daher bereits mit Sánchez telefoniert und ihm vorgeschlagen, dass die PSOE durch eine Enthaltung seine Wahl zum Ministerpräsidenten ermögliche. Das ist jedoch so gut wie ausgeschlossen. Schließlich beruhte die Kampagne der PP auf dem Motto „Derogar el sanchismo“ („den Sanchismus abschaffen“). Jemanden um Unterstützung fragen, mit dem Ziel, dessen politisches Werk zu demontieren, ist keine Erfolg versprechende Strategie.

Núñez Feijóo ist also der tragische Wahlsieger. Er verbesserte das Ergebnis der PP gegenüber 2019 deutlich, seine Partei wurde stärkste Kraft. Doch nach dem großen Erfolg bei den kommunalen und regionalen Wahlen vom 28. Mai, bei denen die PP in einigen Regionen wie etwa auf den Balearen die Macht eroberte, teils zusammen mit Vox, hatten die Konservativen mit mehr gerechnet. Bis zum Ende des Wahlkampfs sagten einige Umfragen sogar eine absolute Mehrheit von PP und Vox voraus.

Der Oppositionsführer ist somit angezählt. Es wird bereits spekuliert, ob sich die erfolgreiche und ambitionierte Ministerpräsidentin der Region Madrid, Isabel Díaz Ayuso, aus der Deckung wagt und die Führung der PP anstreben könnte. Am 28. Mai gewann sie eine absolute Mehrheit und kann in der Hauptstadtregion ohne Vox regieren. Am Wahlabend, als die Parteispitze um den Kandidaten Núñez Feijóo auf dem Balkon der Zentrale in Madrid den Anhängern zujubelte, waren zwischenzeitlich „Ayuso, Ayuso“-Rufe zu hören.

Schwierige Bündnissuche: Lässt sich mit diesem Ergebnis eine Regierung bilden?

Schwierige Bündnissuche: Lässt sich mit diesem Ergebnis eine Regierung bilden? / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Die Stimmen von Sánchez

Die Chancen auf eine Wiederwahl von Sánchez sind realistischer, sie ist aber keineswegs ausgemacht. Die PSOE erreichte nach der Pleite vom 28. Mai ein überraschend gutes Ergebnis, gewann sogar zwei Sitze hinzu. Dennoch wird es eine Mammutaufgabe, die nötigen Stimmen zusammenzubekommen. Die PSOE und das neue Linksbündnis Sumar, das den Platz des bisherigen Koalitionspartners Unidas Podemos übernommen hat und 12,3 Prozent der Stimmen holte, kommen auf 153 Abgeordnete. Die Unterstützung der PNV, der linken baskischen Separatisten von Bildu, der katalanischen Republikaner der ERC und der galicischen Nationalisten (BNG) gilt als sehr wahrscheinlich, da diese Parteien bislang meist mit der Minderheitsregierung von Sánchez abgestimmt hatten. Zusammen kommt dieser Block auf 172 Sitze im Parlament.

Die Rolle von Puigdemont

Den Schlüssel zur Wiederwahl von Sánchez hat daher Junts, die Partei der konservativen Nationalisten aus Katalonien. Die sieben Abgeordneten müssten sich in einem zweiten Wahlgang enthalten, damit der Sozialist mehr Ja- als Gegenstimmen erhält. Das wird nicht leicht. Junts ist die Partei von Carles Puigdemont, dem früheren katalanischen Ministerpräsidenten, der sich nach dem illegalen Referendum und der anschließenden Unabhängigkeitserklärung 2017 vor dem Zugriff der spanischen Justiz nach Belgien absetzte. Just am Tag nach der Wahl forderte die spanische Staatsanwaltschaft einen neuen Auslieferungsantrag, nachdem die EU-Richter dem Separatistenführer vor Kurzem die Immunität als EU-Parlamentarier abgesprochen hatten. Nun muss der Nationale Gerichtshof darüber befinden, ob die Auslieferung Puigdemonts beantragt wird.

Das Schicksal des Chefs von Junts wird entscheidende Auswirkungen auf die Verhandlungen mit der PSOE haben. Der Preis, den die Katalanen nach der Wahl forderten, ist hoch. Junts verlangt eine Amnestie für die Beteiligten des Unabhängigkeitserklärung und ein verbindliches Referendum über die Abspaltung von Spanien. Vor allem Letzteres ist für die Sozialisten eine rote Linie, während Sumar dafür ist. Die Linken haben die Initiative ergriffen und inoffiziell Kontakt zu Puigdemont in dessen selbst erwähltem Exil in Waterloo aufgenommen. Sánchez ist in den Verhandlungen mit Junts jedoch nicht ganz mittellos. Die Sozialisten wurden am Sonntag in Katalonien mit großem Abstand stärkste Kraft. 2024 stehen dort Regionalwahlen an, und für Junts geht es um die Vormachtstellung im Lager der Separatisten, wo auch noch die Republikaner von ERC mitmischen.

Separatistenführer Carles Puigdemont hat den Schlüssel zur Regierungsbildung in der Hand.  FOTO: MONTECRUZ | GRAFIK: EUROPAPRESS

Separatistenführer Carles Puigdemont hat den Schlüssel zur Regierungsbildung in der Hand. FOTO: MONTECRUZ / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Sollte der PSOE der Machterhalt gelingen, würde das Regieren deutlich schwieriger. Die PP holte im Senat die absolute Mehrheit. Das Oberhaus kann zwar keine Gesetze machen, aber den legislativen Prozess verlangsamen. Zudem regieren die Konservativen nach dem 28. Mai in zwölf der 17 Regionen des Landes.

"Die Demokratie findet eine Formel"

Sánchez gab sich auf der Sitzung der Partei-Spitze am Montag betont entspannt. „Die Demokratie findet schon eine Formel, um das Regieren zu ermöglichen“, erklärte er und schickte seine Mitstreiter erst einmal in den Urlaub. Der Sozialist will seinem Herausforderer Núñez Feijóo den Vortritt lassen beim Versuch einer Regierungsbildung. Keine Partei will später als Hauptschuldiger für eine eventuelle Wahlwiederholung dastehen. Man kann davon ausgehen, dass sich Núñez Feijóo zur Wahl stellen wird, sollte der König nicht anders entscheiden. Bei einem Scheitern der PP wäre dann Sanchez an der Reihe. Auch der Sozialist wird wohl seinen Hut in den Ring werfen, selbst wenn Junts die Gefolgschaft verweigern sollte.

Nach der Konstituierung des Unterhauses am 17. August muss der König die Optionen ausloten. Eine erste Wahl des Premiers würde wohl Anfang September stattfinden. Die zweite Abstimmung, bei der die einfache Mehrheit ausreicht, müsste 48 Stunden danach erfolgen. Scheitert der Kandidat, muss innerhalb von einer Frist von zwei Monaten eine Regierung gewählt werden – oder das Parlament wird automatisch aufgelöst. Die Neuwahlen wären nach diesem Zeitplan wohl kurz vor Weihnachten. 

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