Christian Lindner schlägt den Nassau Beach Club in Palmas Viertel Portitxol als Treffpunkt vor. Zwei Wochen Mallorca-Urlaub stehen kurz vor dem Abschluss, als der 37-jährige Vorsitzende der FDP in der Bundesrepublik und in Nordrhein-Westfalen am Dienstag (2.8.) gut gebräunt und entspannt bei Chill-out-Musik zum Interview empfängt. Zuletzt war er im Frühjahr auf der Insel - und auch die nächsten Mallorca-Ferien sind schon fest eingeplant.

„Auch im Urlaub (fast) immer online" haben Sie zu einem Mallorca-Foto von sich auf Facebook geschrieben. Ihre Fans rieten Ihnen daraufhin, doch lieber mal abzuschalten. Haben Sie den Ratschlag befolgt?

Ich habe die Zeit wie immer mit meiner Frau und Freunden enorm genosssen. Wir sind viel herumgefahren, Sóller, Deià, Andratx, natürlich Playa de Palma. Wir haben viel gesehen, viel gelacht, gut gegessen und getrunken. Für mich wäre es allerdings keine Erholung, wenn ich ganz abschalten müsste. Ich möchte die Nachrichten verfolgen und mir ab und an Luft machen, wenn ich Entscheidungen unserer Bundesregierung als falsch erachte.

„Ort geheim", heißt es auf Facebook - waren Sie wie im Frühjahr in einem Ferienhaus in Canyamel?

Nein, in einem kleinen Hotel in Palma, mit wenigen Touristen und vielen Spaniern.

Sie mussten somit auch erstmals Touristensteuer zahlen. Was halten Sie von der Abgabe?

Tja. Die Insel muss sich finanzieren, dafür habe ich Verständnis. Aber wir bringen als Touristen sehr viel Kaufkraft nach Mallorca. Davon profitiert die Wirtschaft, neben der Gastronomie auch der Handel. Eine zusätzliche Abgabe empfinde ich als unverhältnismäßig. Aber wir sind Gäste und müssen hier mit den politischen Entscheidungen leben.

Die FDP ist eben eine Steuersenkungsparte...

Ich bin für Steuern, die den Staat finanzieren, aber es darf nicht der Eindruck entstehen, dass unverhältnismäßig stark zugegriffen wird. Und in Spanien gibt es eine Reihe von steuerpolitischen Beschlüssen, die zum Beispiel Immobilienbesitzer oder Touristen belasten. Es wäre schade, wenn das den Eindruck vermittelt, Touristen wären nicht mehr willkommen. Schließlich ist es ein wunderbares Miteinander - wir genießen Natur und Kultur, und die Mallorquiner profitieren von Kaufkraft und Arbeitsplätzen.

Dieses Jahr ist der Ansturm auf Mallorca noch größer. Erleben Sie die Insel als voll?

Nein, wir waren aber auch nicht an den touristischen Hotspots, sondern viel mit Freunden im Umland. Da aber der Flughafen nahe am Hotel ist, haben wir feststellen können, dass die Flugbewegungen derzeit auf Rekordniveau sind.

Das störte sehr?

Nein, im Prinzip fasziniert mich fast alles, was mit Benzin betankt ist. Und wenn man Flexibilität will, braucht man Flughäfen. Als Partei sind wir ja beispielsweise auch dafür, dass der Flughafen Berlin-Tegel offen bleibt. Wie könnte ich mich dann hier über Fluglärm beschweren?

Nehmen Sie von Mallorca aus die deutsche Politik anders wahr?

Hier gibt es schon eine Distanz, aber ich lese ja doch dieselben Zeitungen auf dem iPad wie zu Hause. Wenn mich hier Menschen abends vom Nachbartisch ansprechen, dann merke ich aber, dass es eher um grundsätzlichere Dinge geht. Warum wird Deutschland nicht mehr modernisiert? Warum wirkt unser Rechtsstaat so schwach?

So differenziert diskutieren Sie mit Mallorca-Urlaubern?

Natürlich wollen viele auch einfach ein Selfie haben und keine intensive Debatte. Von vielleicht zehn Leuten, die mich ansprechen, fragt einer nach einem Gespräch bei einem Kaffee. Viele wollen auch nicht im Urlaub stören. Aber ich mache meinen Beruf gerne.

Aus der Ferne wirkt die derzeitige politische Debatte in Deutschland zum Teil hysterisch. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, Ihre Analyse ist richtig. In Deutschland wird fast ausschließlich über das aktuell Dringliche diskutiert, mit einem hohen Erregungsgrad. Die deutsche Regierung arbeitet den Problemen nur hinterher. Das Grundlegende ist komplett herausgefallen.

Sprechen wir über die Politik in Spanien. Sie kritisieren, dass der Defizitsünder um eine EU-Strafe von 2 Milliarden Euro herumkommt. Hat es Spanien nicht schon schwer genug?

Das Land hat in den vergangenen Jahren beachtliche Fortschritte organisiert. Wenn man über Sanktionen spricht, muss man die wirtschaftliche Entwicklung anerkennen. Europa ist aber auch eine Rechtsgemeinschaft. Jetzt darf nicht wieder bei der ersten Gelegenheit das geltende Regelwerk außer Kraft gesetzt werden. Sonst stirbt der Stabilitätsgedanke in Europa, und die Menschen verlieren das Vertrauen in den Einigungsprozess. Ich hoffe im Übrigen, dass eine stabile Regierungsmehrheit zustande kommt, um den wirtschaftlichen Reformprozess fortzusetzen. Und dass es mit Podemos keinen Rückfall in eine Politik gibt, die eher südamerikanisch und an Hugo Chávez orientiert ist.

Eine weitere neue Partei in Spanien sind die liberalen Ciudadanos. Die „Wirtschaftswoche" beschreibt Parteiführer Albert Rivera als „spanischen Christian Lindner". Haben Sie ihn mal persönlich kennengelernt?

Nein, wir haben bislang nur E-Mails ausgetauscht, als ich ihm zum Wahlerfolg gratulierte. Wir haben ja auch in Deutschland mit der FDP so viel zu tun, dass ich leider im Moment zu wenige persönliche Kontakte zu den Schwesterparteien in Europa habe. Aber ich sehe es mit großer Freude, dass es neben den etablierten Parteien in Spanien mit ihren Problemen nicht nur ganz links eine Alternative gibt, sondern auch Progressive und Bürgerliche Partei ergriffen haben und für Ideen wie Solidität, Individualität, Fortschritt, Technologie oder Wettbewerb eintreten, wofür auch die Agenda 2010 stand. Wenn ich Sanktionen fordere, dann nicht als Kassenwart Europas, sondern eher als Coach und Motivationstrainer. Schaut her, wir hatten vergleichbare Probleme, auf diesem Weg haben wir sie gelöst, und am Ende haben alle davon profitiert.

Die Ciudadanos haben es aus dem Stand zur viertstärksten Partei Spaniens geschafft. Kann man sich als liberale Partei von ihrem Erfolg etwas abgucken?

Wir tauschen uns mit den neuen liberalen Parteien in Europa aus, nur ist die FDP in Deutschland keine neue Bewegung, sondern eine Traditionspartei. Seit 1949 hat sie viele Richtungsentscheidungen in der Bundesrepublik mitgeprägt. Für uns gelten andere Spielregeln, wir können nicht so tun, als hätten wir mit alldem nichts zu tun. Und das wollen wir auch gar nicht, denn wir sind stolz auf unsere Geschichte.

Stichwort Populismus: Rivera ließ sich nackt für eine Kampagne fotografieren, als seine Partei sozusagen „geboren" wurde.

Das müssen Sie von mir nicht befürchten ...

In Spanien wird seit Monaten ohne Erfolg um eine Regierungsmehrheit gerungen. In ­Deutschland lassen die Volksparteien ebenfalls Federn, neue Formationen haben Erfolg. Drohen nach den Wahlen im kommenden Jahr spanische Verhältnisse?

Meine Sorge ist es, dass das, was Deutschland auszeichnet, verloren gehen könnte. Die Stärke Deutschlands bestand nämlich auch immer darin, dass es klare, stabile Regierungsmehrheiten und eine handlungsfähige Opposition gab. Das könnte jetzt auf den Spiel stehen, da die Ränder stärker werden und Parteien an Zuspruch gewinnen, die sich eigentlich nur am Protest nähren. Es kann also schwierig werden. Aber nichts ist entschieden.

Auch auf Ihrer Facebook-Seite kreisen viele Debatten um die AfD. Können Sie das noch hören?

Man darf ihr nicht ausweichen. Aber die AfD steht auch nicht vor der Machtübernahme in Deutschland. 90 Prozent der Deutschen sind eben keine Unterstützer der AfD. Das politische Immunsystem funktioniert und erkennt, dass sie keine Antworten haben, sondern bisweilen nur rassistische Ressentiments vertreten. Mich nervt es, weil die AfD von dem ablenkt, was in der Sache diskutiert werden müsste.

Sie sind ein großer Befürworter eines Einwanderungsgesetzes. Hätte ein solches bei der Flüchtlingskrise geholfen?

Ja. Man hätte es allerdings schon vor 20 Jahren anpacken müssen. Es muss klar unterschieden werden zwischen den Flüchtlingen und den Einwanderern. Dem Einwanderer geben wir auf Dauer und unter bestimmten Voraussetzungen Aufenthalt. Der Flüchtling erhält zeitweiligen Aufenthalt, wenn er bedroht ist. Bei uns wird das derzeit alles durchmischt. Das ängstigt viele Menschen und weckt falsche Hoffnungen bei Menschen auf der Flucht. Die legale Bleibeperspektive erwäge ich dann weniger für Menschen, die auf der Flucht aus Syrien sind, sondern eher für arbeitslose junge Männer aus Spanien, die wir viel leichter integrieren könnten. Das würde auch die Situation in Spanien stabilisieren.

Im Moment ist angesichts der Flüchtlingswelle Improvisation gefragt. Sind Sie manchmal insgeheim froh, da nicht in der Verantwortung zu stehen?

Nein. Das ist der Unterschied zur AfD, wir würden gerne gestalten. In der aktuellen Situation bin ich empört, in welche Abhängigkeit Europa von der Türkei geraten ist, von einem autoritären Herrscher. Wir müssen unsere Grenzen wieder selbst kontrollieren, um entscheiden zu können, mit wem wir solidarisch sind und wen wir in unsere Arbeitsmärkte einladen. Wir würden die EU-Grenzschutzagentur Frontex zu einer europäischen Grenzpolizei mit hoheitlichen Befugnissen aufwerten, um effektiv das Staatsgebiet zu schützen. Nicht im Sinne der Abschottung, sondern der Kontrolle.

Ohne Vertretung im Bundestag werden Sie in den Medien weniger berücksichtigt. Inwieweit kompensieren das inzwischen die sozialen Netzwerke?

Ich nutze gerne soziale Netzwerke, um direkt mit Menschen zu kommunizieren. Aber das ersetzt nicht die klassische Medienarbeit. Die öffentlich-rechtlichen Medien wie ARD und ZDF blenden uns derzeit leider nahezu vollständig aus. Eine Chance auf die Tagesschau haben wir zwei oder drei Mal im Jahr.

Das hieße im Umkehrschluss, dass man ganz viele andere Parteien auch in den Medien berücksichtigen müsste.

Kommt darauf an. Zeigen Sie mir eine von diesen Parteien, die 53.000 Mitglieder und bald hundert Abgeordnete in den Landtagen hat. Qualitätsjournalismus muss zudem auch die Relevanz einer Position abbilden.

Sie haben in diesem Jahr mit Guido Westerwelle und Hans-Dietrich Genscher zwei zentrale Figuren der Partei verloren. Bei wem holen Sie sich jetzt Rat?

Ich habe beide sehr geschätzt. Sie fehlen mir persönlich. Aber wir haben andere ältere Parteifreunde, deren Rat jetzt wichtiger geworden ist. Ich denke an Hermann Otto Solms oder Wolfgang Gerhardt.

Guido Westerwelle hat Mallorca abgöttisch geliebt. Sie sagten mal, Sie mögen „den Süden". Wie ist Ihr Verhältnis zur Insel, eher pragmatischer Natur?

Zu Ostern sind wir seit vielen Jahren im Nordosten. Ich liebe das Meer, die Küche, ich treffe hier sehr viele Freunde und Bekannte, zu denen ich den Kontakt zu Hause gar nicht so pflegen kann, wie ich es möchte, weil ich Sechs-Tage-Wochen à 100 Stunden habe. Ich schätze Mallorca sehr - das ist nicht pragmatisch, sondern meine Seelen-Tankstelle.

Stichwort Work-Life-Balance - macht man sich auf Mallorca Gedanken, ob man wirklich ein Spitzenamt im nächsten Bundestagswahlkampf anstreben soll?

Ein offenes Wort: Ich glaube, dass meine zeitliche Inanspruchnahme jetzt so hoch ist, wie sie davor nicht war und nie mehr sein wird. Auch nach dem Wiedereinzug in den Bundestag werde ich nicht mehr reisen als jetzt, sondern eher weniger, weil ich dann, um Menschen zu erreichen, auch in eine Kamera sprechen kann - während ich jetzt jeden Tag drei bis fünf Veranstaltungen als Redner bestreite. Meine Frau und ich haben verabredet, dass ich das vier Jahre machen kann. Mir macht das große Freude, aber das ist keine Intensität für ein ganzes Leben.