Aufstehen, mit letzter Kraft, zum Supermarkt schleppen, ein Zwölfer-Pack-Bier kaufen, leer trinken. Mittags dann das zweite Zwölfer-Pack anbrechen, ebenfalls leeren. Zur Arbeit quälen, dort weitertrinken, abbrechen, weil es nicht mehr geht. Ins Bett gebracht werden, nachts von Panikanfällen aufwachen, die Angst mit Bierflaschen neben dem Bett ertränken. Aaron Müller kann plastisch erzählen. Von einer Zeit auf Mallorca, in der Alkohol für ihn über allem stand. In der sein Leben ohne das Trinken nicht funktionierte und mit ihm erst recht nicht. „Ich habe praktisch zehn Jahre im Vollsuff verbracht“, sagt er.

Müller ist in der deutschen Partyszene auf der Insel als DJ Aaron bekannt. Jahrelang war er Haupt-DJ im Feiertempel Bierbrunnen in Cala Ratjada. Doch seine Sucht zerstörte alles. Vor einem Jahr hat er den Absprung geschafft, ist seitdem trocken – und seit Mitte Mai beim Bierkönig an der Playa de Palma unter Vertrag. „Ich habe es in die Champions League geschafft und das erreicht, was ich mir eigentlich schon versaut hatte“, sagt er. Ein Neuanfang in einem Milieu, in dem Alkohol allgegenwärtig und für viele unverzichtbar ist.

Fürs Trinken Gefeiert

Aaron Müller ist ein angenehmer Gesprächspartner. Offen, unaufgeregt, strukturiert, selbstkritisch. „Mein Wesen kommt nach und nach zurück. Ich bin ein ehrlicher Mensch. Aber der Alkohol hat meine Werte jahrelang untergraben“, sagt er. So, wie alles andere in seinem Leben. Dabei fing alles harmlos an. Wirtschafts-Fachabi in seiner Heimat Idar-Oberstein. Ausbildung in einer Werbeagentur. Ein paar Jahre „normale Arbeit“. „Aber ich war schon immer anders als andere. Extrovertiert. Ich mochte es, im Mittelpunkt zu stehen, andere zu begeistern. Entweder man hat mich geliebt oder gehasst, das war schon immer so“, reflektiert er. In seiner Freizeit legte er als DJ auf.

2010, mit 25 Jahren, der Ausbruch aus dem konventionellen Rahmen, in dem seine Eltern ihn gerne behalten hätten. Als Promoter ging es nach Mallorca, an die Playa. Rauskommen, das Leben genießen. Durch Kontakte landete er schnell in Krümels Stadl in Peguera, packte bei allem mit an, was anstand. Es ist nicht schwer, sich den Rheinland-Pfälzer als Anheizer vorzustellen, der das Publikum vor den großen Acts mit Charme und Witz in Stimmung bringt. Kurzzeitig leitete er selbst eine Bar in Peguera. 2012 dann der erste Vertrag als DJ. Einmal pro Woche im Bierbrunnen in Cala Ratjada, sechsmal pro Woche in Feierlokalen in Cala Millor. Es war der Anfang des Aufstiegs – zumindest beruflich.

Schon nach kurzer Zeit folgte der Vertrag als Zweit-DJ im Bierbrunnen. DJ Aaron war nun täglich am Set. „Die Leute haben mich geliebt, ich hatte 1.000 Frauen“, sagt er. Es klingt nicht angeberisch, sondern nachdenklich, heute, zehn Jahre später. Damals stieg ihm der Erfolg mehr und mehr zu Kopf. „Dabei habe ich gemerkt, dass mir alles langsam entgleist“, sagt er. Doch die Menge feierte ihn. Und niemand schaute komisch, wenn er mit Bier oder Sangria am DJ-Pult stand. Warum auch, in einem Ambiente, in das einige Urlauber eigens eintauchen, um tagelang betrunken die Sau rauszulassen – nur dass es für die Angestellten kein Urlaub ist, sondern Alltag. „Die Gäste feierten mich. Auch dafür, dass ich trank.“

In den Sommern Cala Ratjada, in den Wintern Après-Ski in Österreich – die folgenden Jahre brausten an Aaron Müller vorbei. In Österreich führten ihn DJ-Kollegen auch an Drogen heran. „Sie standen für mich nie im Vordergrund, aber irgendwann brauchte ich das Kokain, um bei dem Alkohol-Pegel überhaupt noch im Bierbrunnen meiner Arbeit nachkommen zu können“, sagt Müller. Er ließ den Kontakt zur Familie und zu Jugendfreunden immer mehr schleifen, lebte wie in einer Blase. „Es war Größenwahn, und teilweise bin ich auch an die falschen Leute geraten. Schlimm waren auch die Shitstorms in den sozialen Medien. Aber die meisten Menschen in meinem Umfeld wollten mir nichts Böses. Sie wurden nur mit der Zeit co-abhängig.“ Brachten ihm Bier, wenn er selbst nicht mehr in der Lage war, es kaufen zu gehen. Liehen ihm Geld, wenn das Monatsgehalt schon nach wenigen Tagen aufgebraucht war. Halfen ihm, das Alkoholverbot zu umgehen, das seine Chefs im Bierbrunnen ihm zeitweise auferlegt hatten – weil auch sie merkten, dass ihr Publikumsliebling gen Abgrund schlitterte. Aaron, der arglose, ehrliche, nette und witzige Mensch existierte da kaum noch. „Ich habe alle in meinem Umfeld enttäuscht. Alle. Das ist vielleicht das Schlimmste. Nach jeder Eskapade habe ich mich entschuldigt. Aber irgendwann sind Worte nichts mehr wert, weil jeder wusste, dass ich mich wenig später wieder danebenbenehme. Und ich wusste es auch.“

Müller 2019 am DJ-Pult, 30 Kilo schwerer. | FOTO: PRIVAT

Der erste Rausschmiss

2016 dann der erste Rausschmiss aus dem Bierbrunnen. „Ich hatte mit den Chefs viele Gespräche. Sie sagten: ,Aaron, hör auf mit dem Trinken‘, aber ich habe nicht auf sie gehört.“ Plötzlich war Aaron Müller nicht nur arbeits- sondern auch obdachlos – die Wohnung für die Künstler wird gewöhnlich von den Arbeitgebern gestellt. In seiner Not flüchtete er nach London zu einer Bekannten. Doch auch dort gab es Ärger.

Irgendwie berappelte er sich, versuchte 2017, auf der „Aida“ als DJ anzuheuern. „Da bin ich in Rekordzeit wieder runtergeflogen, nach nur zwei Wochen.“ Ebenso bei der „Mein Schiff“. Sein trotz allem guter Name diente als Eintrittskarte, seine regelmäßigen Abstürze als Kündigungsgrund. Als der Bierbrunnen ihn 2017 noch mal anfragte, diesmal sogar für einen Job als Haupt-DJ, war es die vermeintliche Rettung. „Vermutlich nahmen sie mich nur, weil mein Vorgänger gegangen war und sie keinen anderen fanden. Außerdem zog ich Gäste an“, glaubt Müller. Anfangs habe er es irgendwie hinbekommen, wenigstens zwei Stunden zu arbeiten. Er lernte eine Frau kennen, verlobte sich sogar. Doch die Sucht hielt an.

„Corona war dann Segen und Fluch zugleich“, resümiert er. Plötzlich arbeitslos, aber aufgrund des Festvertrags mit Kurzarbeitergeld ausgestattet, zog er zu der Verlobten nach Deutschland. Die Drogen seien damals bereits passé gewesen, doch der Alkohol weiterhin ständiger Begleiter. „Ich wog 105 Kilo, bekam Panikattacken, konnte vor Gichtanfällen teilweise nicht mehr gehen. Alle zwei bis drei Wochen war ich im Krankenhaus.“ Mal blieb er ein paar Wochen trocken, mal ein paar Tage, schwor sich, es sein zu lassen. Vergeblich.

Im Frühsommer 2021 öffnete der Bierbrunnen nach Corona erneut. „Da ging es mir so schlecht, dass ich oft schon um 21 Uhr ausgefallen bin. Zwei Wochen nach Saisonbeginn legten sie mir nah zu gehen.“ Es sei eine freundschaftliche Trennung gewesen, in beiderseitigem Einverständnis. „Und doch hat es mir den Boden weggerissen. Der Bierbrunnen war immer mein letzter Anker.

Seine damalige Verlobte wandte sich in ihrer Verzweiflung an seine Familie. Die Eltern bezahlten das Flugticket nach Deutschland, die Schwester holte ihn am Flughafen ab. Zum ersten Mal ging der mittlerweile 36-Jährige in eine Entzugsklinik. 21 Tage lang leiden, reflektieren, zu sich finden. „Es ging um Leben oder Totsaufen. Sie sagten mir dort, ich hätte noch zwei, maximal drei Jahre, mit Glück.“ Seit dem 19. Juni 2021 sei er nun trocken, sagt er. „Es ist wie mein zweiter Geburtstag.“ Er begann Sport zu treiben, nahm fast 30 Kilo ab, suchte sich einen Job als Küchenbauer, während er auf einen Platz für eine Langzeittherapie wartete, ging zu den Anonymen Alkoholikern und zur ambulanten Therapie. Baute Stück für Stück das Verhältnis zu Jugendfreunden und Familie wieder auf. Bewies, dass er es diesmal ernst meinte. „Ich wollte allen zeigen, dass ich es schaffe“, sagt Aaron Müller.

Aber nicht als Handwerker in Rheinland-Pfalz, sondern als DJ auf Mallorca. „Meine Mutter war entsetzt, als sie hörte, dass ich wieder auf die Insel will, aber ich will keinen normalen Job. DJ ist meine Berufung. Auch ohne Alkohol.“ Im Februar 2022 bekam er die Genehmigung zur Langzeittherapie – fast gleichzeitig mit dem Job-Angebot vom Münchner Kindl an der Playa de Palma. Müller entschied sich für Mallorca. Anfang Mai fragte dann der Bierkönig an. Fast kommen Müller die Tränen, wenn er davon berichtet. „Ich kann es kaum glauben, nachdem ich alles, was ich mir aufgebaut habe, selbst zerstört hatte. Jetzt bin ich da, wo ich immer hinwollte.“ Zwar ist er nur einer aus einem Team von DJs und muss zunächst meist die unbeliebte Tagesschicht übernehmen. „Aber ich spiele in der Liga, in der ich spielen will.

Trocken zwischen Alkopops

Während Müller der MZ all dies erzählt, in einem kleinen Café in der Schinkenstraße, laufen draußen die Urlauber vorbei gen Bierkönig. Manche haben Alkopops und Schnapsflaschen in der Hand, um 12 Uhr mittags. „Wir müssen aufhören, weniger zu trinken“, schallt aus einem Lautsprecher. Auch DJ Aaron legt solche Musik auf. Nein, natürlich sei das Partyumfeld kein leichtes Pflaster für einen trockenen Alkoholiker. Müller weiß es aus eigener Erfahrung und weil er Künstlerkollegen verloren hat, die die Flasche ins Grab brachte. „Ich will nicht so enden wie sie“, sagt er.

Und doch, trotz allem, dies sei seine Welt. Er empfinde nach wie vor keine Ablehnung gegen jene, die einfach mal feiern, um dem Alltag zu entkommen. „Was ich gelernt habe, ist, dass man nichts mit Idioten zu tun haben muss, die einen zum Trinken drängen. Auf Mallorca nicht und auch anderswo nicht.“ Auch in der Partyszene gebe es anständige Leute. Echte Freunde, Menschen, die trotz ausgelassener Stimmung einen kühlen Kopf bewahren. Selbst die Mitglieder der Trinkbruderschaft Suffgeschwader hätten Respekt davor, dass er nicht mehr trinke. „Ebenso wie viele Kollegen. Früher war mir das nicht klar. Heute halte ich mich an diese Menschen.“ Wenn er junge Nachwuchskünstler sieht, die es mit dem Alkohol übertreiben, sucht Aaron Müller das Gespräch mit ihnen. So, wie es einst besorgte Kollegen mit ihm taten. „Letztlich muss es aber jeder selbst einsehen. Wer noch einen Funken von ,es ist nicht so schlimm‘ in sich trägt, dem ist nicht zu helfen.“

Wenn er nicht arbeitet, genießt Müller jetzt das ganz normale Leben, zum ersten Mal seit Jahren. Mit Freunden zum Frühstücken treffen, an den Strand gehen. Auch seinen ersten eigenen Song hat er aufgenommen. „Die Leute fangen an, mir wieder zu vertrauen. Diesmal enttäusche ich sie nicht“, sagt er. Er wolle weiter auf den Trümmern aufbauen, die er selbst zu verantworten habe. Sogar die Trennung von seiner Verlobten habe ihn nicht rückfällig werden lassen. Kein Alkohol mehr, das sei sein Credo. Auch nicht im Sündenpfuhl Ballermann.