31. Dezember 2002, kurz vor Mitternacht: An der Puerta del Sol in Madrid versammelten sich unzählige Menschen dicht an dicht, auch auf der Plaça Cort in Palma dürfte so einiges los gewesen sein. Vor der St.-Helena-Kirche in Giesing standen wir dagegen nur zu neunt: zwei spanische Mütter, zwei deutsche Väter (die eigentlich nur Raketen zünden wollten) und fünf Kinder.

Alle hatten wir zwölf Trauben in der Hand, obwohl die Finger ganz taub waren vor Kälte. Dann fingen die Glockenschläge an. Sind das noch die cuartos? Also die vier Glockenschläge vor den richtigen zwölf? Irgendwann gab einfach eine der Mütter ein Startsignal. Nach den zwölf Trauben gingen die Glockenschläge noch minutenlang weiter. So war das ja nicht gedacht. Aber immerhin, nach den Trauben durften die Väter endlich ihre Raketen anzünden.

Spanische Silvester-Tradition

In Spanien werden traditionell zwölf Trauben gegessen, um das alte Jahr zu verabschieden und das neue zu begrüßen. Wer nicht draußen in der Menge ist, schaut sich normalerweise mit Freunden oder Familie im Fernsehen die zwölf Glockenschläge an der Puerta del Sol in Madrid an. Die spanischen TV-Sender summierten zum vergangenen Jahreswechsel 15,7 Millionen Zuschauer. Das ist fast ein Drittel der 47,3 Millionen Spanier.

Doch was ist mit den Spaniern, die im Ausland wohnen? Vor dem Internet gab es nur die Möglichkeit, die Glockenschläge über Satellit im Fernsehen zu sehen – von unseren Bekannten hatte das keiner. Trotzdem kam es für meine spanische Mutter nicht infrage, die Traubentradition in München zu vernachlässigen. Wer im Ausland lebt, will meist nicht die Verbindung zu seiner Heimat verlieren, und versucht außerdem, seinen Kindern die eigenen Bräuche weiterzugeben.

Daher zählte meine Mutter entweder die letzten zwölf Sekunden des Jahres mit Blick auf die Wohnzimmer-Uhr laut mit, oder man stellte sich halt in den Schnee vor die Kirche. Alles änderte sich, als mit dem Internet die Möglichkeit aufkam, die spanischen Fernsehsender zu streamen. Da anfangs nicht jeder einen Computer hatte und erst recht keinen sonderlich großen, schlossen sich verschiedene (halb-)spanische Familien zusammen.

Religiöse Trauben-Verehrung

Was sich bis heute nicht geändert hat, ist die beinahe religiöse Verehrung der Trauben. Schon Tage zuvor rufen sich die Familien untereinander panisch an und fragen, wer wie viele mitbringt. Stunden vor Mitternacht werden jeweils zwölf Stück auf Tellern verteilt. Die Kinder – und auch die deutschen Partygäste – bekommen sechs halbierte Trauben, um sich nicht zu verschlucken.

Jeder der spanischen Anwesenden zählt einmal alle Teller ab, ob auch wirklich genug da sind. Gegen 23.30 Uhr werden vor allem die Mütter nervös, fangen an, die Trauben zu verteilen und warnen davor, noch vor den Glockenschlägen welche zu essen. Falls etwas schiefgeht, stehen weitere Trauben bereit. Gegen zehn vor zwölf erklären noch mal mindestens eine Mutter und ein Onkel, wie die Tradition funktioniert. Dann ist es endlich so weit: die Glockenschläge. Jeder stopft sich Trauben in den Mund und schmatzt ein undeutliches: „Feliz año, frohes Neues!“ Es gibt Küsse, Umarmungen, Cava und Eierlikör. Die Musik wird aufgedreht, und die Feier geht richtig los.

Party a la española

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Silvesterpartys sind in der spanischen Gemeinschaft in München fiestas a la española: Es gibt Tortillas, Schinken, die letzten Turrones. Angestoßen wird mit Cava, auch wenn das bayerische Bier nicht fehlt. Bis in die frühen Morgenstunden schallen spanischsprachige Partyhits von „La flaca“ über „La bomba“ bis zu „Despacito“ aus den Lautsprechern. Vor allem die Spanierinnen tanzen dazu ausgelassen. Die deutschen Väter warten eigentlich nur aufs Böllern. Manche Dinge ändern sich nie.