Meinung | DER INSELDUDEN

Spieglein, Spieglein an der Wand

Jan Lammers setzt sich in dieser Woche mit dem Blick in den Spiegel auseinander

Spiegel, Gegenstand aus Glas oder Metall, dessen glatte Fläche das, was sich vor ihr befindet, als Spiegelbild zeigt

Während sich die Wahrheit über das seelische Befinden bei einem Telefonat eventuell noch verbergen lässt, ist diese Verschleierungstaktik bei einem Face to Face aussichtslos. Ein diesbezügliches inseleigenes Sprichwort entblößt diese Wahrheit, die gleichermaßen für das strahlende Antlitz von Frischverliebten wie über Jahre eingefurchte Sorgenfalten gilt: „Das Gesicht ist der Spiegel der Seele“ (Sa cara és es mirall de s’ànima). Auf einen anderen Aspekt bezieht sich der Ausspruch „Spiegel schweigen niemals“ des deutschen Gegenwartsautors Martin Reisenberg, denn jedes noch so unter Verschluss gehaltene Geheimnis bohrt beim Blick in den Spiegel an der Seele. In zwei humorvolle Redewendungen von der Insel wird Bezug auf jenes Objekt genommen, deren alte Exemplare aus fein poliertem Obsidian in osmanischen Gräbern von über 7.000 Jahren gefunden wurden: „Es gibt derart hübsche Frauen, dass es unerklärlich ist, wie diese nicht ohnmächtig werden, wenn sie in den Spiegel schauen“ (Hi ha dones tan maques que no s’explica com no es desmaien al mirar-se al mirall).

Außerdem gibt es eine unzählige Art – sei es nun offen, hintersinnig oder schlichtweg ordinär – Witze zu erzählen: „Der Humor ist der Spiegel, indem sich das Wesen des Menschen reflektiert“ (S’humor és el mirall on es reflecteix l’ésser huma). Der erste Blick der mittelalterlichen Ärzte oder auch Naturheiler auf der Insel (curanderos) ging in den Mund oder die Augen des Erkrankten, denn eine ungewöhnliche Verfärbung war der unzweifelhafte Fingerzeig der Erkrankung: „Die Zunge ist der Spiegel des Magens“ (Sa llengó és es mirall des ventre). Das abschließende Bonmot stammt von niemand Geringerem als Johann Wolfgang von Goethe: „Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.“

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