Wirtschafts-Nobelpreisträger: "Es wäre nicht das Ende der Welt, wenn die iPhones etwas mehr kosten würden"

Die Klagen über den vermeintlichen Niedergang Deutschlands wollen gar nicht mehr aufhören. Da lohnt ein Blick von außen: Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz über wahre Lebensqualität, inkompetente Autokraten und den Wettstreit mit China

Joseph E. Stiglitz bei seinem Vortrag auf dem Wirtschaftsforum Neu Denken 2023.

Joseph E. Stiglitz bei seinem Vortrag auf dem Wirtschaftsforum Neu Denken 2023. / Torsten Zimmermann

Ciro Krauthausen

Ciro Krauthausen

Joseph E. Stiglitz ist einer der renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler der Welt. Für seine Forschung über diverse Varianten des Marktversagens erhielt der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Professor an der New Yorker Columbia University 2001 den Wirtschafts-Nobelpreis. Der heute 80-jährige US-Amerikaner beantwortet am Rande des Wirtschaftsforums Neu Denken die Fragen der MZ so überlegt wie verschmitzt.

Die Staaten greifen wieder verstärkt in die Wirtschaft ein, der Protektionismus ist weltweit auf dem Vormarsch. Ist die neoliberale Weltordnung etwa in ihrem Endstadium angelangt?

Ja. Verdientermaßen. Diese Weltordnung hat zu geringeren Wachstumsraten als vor ihr geführt, und das gesamte Wachstum ging an die Menschen an der Spitze. Sie hat mehr Ungleichheit und mehr Instabilität geschaffen. Bedauerlich ist jedoch, dass die Prinzipien der Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen, die für die Welthandelsorganisation WTO und die Welt von zentraler Bedeutung waren, durch nichts ersetzt wurden. In gewisser Hinsicht gelten keine Regeln mehr. Und das ist sehr beunruhigend.

Ist somit auch die jahrzehntelange Expansion des globalen Handels beendet?

Der Welthandel wird aufgrund der Struktur der Volkswirtschaften ohnehin schrumpfen. Wir werden zu Dienstleistungen übergehen, die sich weniger zum Handel eignen als die heutigen Waren. Öl zum Beispiel wird durch die weniger handelbaren erneuerbaren Energien ersetzt werden.

"Das kann keine gute Wirtschaft sein, wenn sich alles nur um den Verkauf dreht – und nicht darum, zu produzieren und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern."

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Die Rede ist mitunter von einer fragmentierten Weltwirtschaft. Was halten Sie davon?

Weniger global integriert ist eine bessere Beschreibung. Die Fragmentierung hat mit dem neuen Kalten Krieg zu tun.

Muss sich Europa von China abkoppeln, so wie es die Vereinigten Staaten versuchen?

Mir gefällt der Begriff, den die Europäer dafür verwenden, nämlich derisking, also das Risiko zurückfahren. Und es ist sicherlich nicht verkehrt, darüber nachzudenken, wo man stünde, wenn aus einem milden Kalten Krieg ein intensiverer Kalter Krieg würde.

Wirtschaftsforum Neu Denken versammelt deutsche Manager und Politiker auf Mallorca

Joseph E. Stiglitz im Gespräch mit Teilnehmern am Wirtschaftsforum Neu Denken in Palma. / Nele Bendgens

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Europas Wirtschaft ist eng mit der chinesischen verflochten. Ist es überhaupt möglich, das aufzubrechen?

Auf die meisten Dinge, die in China hergestellt werden, hat China kein Produktionsmonopol. Der Westen könnte sie produzieren. Wir müssten vielleicht mehr dafür bezahlen, aber es wäre nicht das Ende der Welt, wenn zum Beispiel iPhones ein bisschen mehr kosten würden.

Sie würden erheblich teurer werden.

Nein, nicht viel teurer, da damit erhebliche Gewinnspannen erzielt werden. Ein großer Teil geht an die Apple-Aktionäre (lacht). Der Preis würde also ein wenig steigen, und die Apple-Aktionäre würden ein bisschen weniger verdienen. Es käme zu einer Anpassung. Und ja, es ist sogar vorstellbar, dass das Tempo des Anstiegs des Lebensstandards insgesamt reduziert wird.

"Wenn man Sie zufällig in einem Land aussetzen würde und Sie nicht wüssten, ob Sie zu den oberen fünf Prozent bei den Einkommen gehören, würden Sie dann lieber in Dänemark oder in den USA landen?"

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Das ist die Perspektive der entwickelten Länder. Wie sehen das die Entwicklungsländer?

Es gibt da zwei oder drei Aspekte. Erstens die lange Geschichte des Kolonialismus, die ihre Sichtweise geprägt hat. Dann die Ära des Neokolonialismus, in der sie politisch unabhängig wurden. Und schließlich deren Konsequenzen in der Pandemie, als die WTO-Vereinbarungen zum Patentschutz für sie bedeuteten, dass ihre Bürger starben und unsere Konzerne Geld verdienten. Nichts hätte den Neokolonialismus besser verdeutlichen können. Dass wir die Profite der Konzernriesen über ihr Leben stellten, hat sie eindeutig verärgert. Und dann begann der Krieg, sie sahen sich nun mit höheren Öl- und Lebensmittelpreisen konfrontiert, und wir haben ihnen überhaupt nicht geholfen. Aber, um noch einmal auf Covid-19 zurückzukommen: Wir haben damals unsere Wirtschaft enorm unterstützt, sie hingegen hatten nicht die finanziellen Mittel dazu. Das bedeutete, dass sie sich verschuldeten. Und dann reagierten wir auf die Inflation, indem wir die Zinssätze anhoben, was in vielen Ländern zu einer Schuldenkrise führt. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn diese Länder jetzt sagen: Das ist euer Krieg. Meiner Meinung nach ist es ein Krieg um internationale Rechtsstaatlichkeit, aber das ist es, was sie sagen.

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Joseph E. Stiglitz bei seinem Vortrag auf dem Wirtschaftsforum Neu Denken in Palma.

Joseph E. Stiglitz bei seinem Vortrag auf dem Wirtschaftsforum Neu Denken in Palma. / Torsten Zimmermann

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Wie groß könnte die Schuldenkrise als Folge der Zinserhöhungen werden?

Es wird wahrscheinlich keine systemische Schuldenkrise sein, aber für Länder wie Sambia, Ghana oder Sri Lanka ist es ein großes Problem. Es ist eine beträchtliche Anzahl von Ländern, die gefährdet sind.

Für wie groß halten Sie das Risiko einer Bankenkrise als Folge der Zinserhöhungen?

Aufgrund der mangelnden Transparenz wissen wir das nicht wirklich. Einige Leute haben sich das angeschaut und gesagt, dass es eine Reihe von Banken gibt, die fast genauso gefährdet sind wie die US-Regionalbanken, die zusammengebrochen sind. Und wir wissen auch, dass die Menschen heute sehr leicht Geld von ihrer Bank abheben können. Die Technologie hat alle Bankrisiken erhöht. Was wir nicht kennen, ist das Portfoliorisiko. Die Kapitalbasis hat sich verbessert, das stimmt. Aber wir wissen auch, dass die Stresstests der Federal Reserve bedeutungslos sind. Das sollte uns eher beunruhigen.

Und wie hoch schätzen Sie das Risiko einer Immobilienkrise ein?

Sorgen bereiten die Gewerbeimmobilien. Wissen Sie, wenn es keine Schulden gäbe, wäre das kein Problem. Es passiert fortwährend, dass einige Leute Verluste machen, und die anderen Gewinne. Die Leute in der gewerblichen Immobilienbranche haben falsch gewettet. Die meisten von ihnen sind reich, sodass sie den Verlust verkraften können, aber wenn er auf das Bankensystem übertragen wird, ist das ein größeres Problem. Aber wer hätte schon voraussehen können, dass die Menschen aufhören würden, zur Arbeit zu gehen und lieber im Homeoffice bleiben?

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Europa, und ganz besonders Deutschland, macht sich Sorgen, in Sachen Innovation und Technologie gegenüber den USA und China zurückzubleiben. Wie sehen Sie das?

Ich sehe eher die Stärken. Dass Europa hinter den USA zurückbleibt, habe ich schon vor der Finanzkrise von 2008 gehört. Und siehe da: Die US-Wirtschaft basierte auf einem Kartenhaus. Wenn Sie jetzt fragen, was die treibende Kraft unseres Technologiesektors in den USA ist, dann ist es die Werbung. Das kann keine gute Wirtschaft sein, wenn sich alles nur um den Verkauf dreht – und nicht darum, zu produzieren und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Wenn man als US-Amerikaner nach Europa reist, ist der Unterschied in der Lebensqualität offensichtlich. Auch die Unterschiede in der Lebenserwartung sind enorm. Wenn man Sie zufällig in einem Land aussetzen würde und Sie nicht wüssten, ob Sie zu den oberen fünf Prozent bei den Einkommen gehören, würden Sie dann lieber in Dänemark oder in den USA landen?

In Dänemark.

Ja, und wenn Sie wüssten, dass Sie Bill Gates werden, würden Sie lieber in den USA landen (lacht). Sie müssen die Sache aus dieser Perspektive betrachten. Europa ist in vielerlei Hinsicht sehr innovativ. Ich wünschte, es gäbe mehr öffentliche Mittel für die Grundlagenforschung, aber die Fähigkeit Deutschlands, Forschung in Produktion umzusetzen, ist wirklich beeindruckend. Natürlich müssen sie sich diversifizieren, es gibt eine zu große Abhängigkeit von China. Aber wenn ich mich in Europa umschaue, wo kommt ein Großteil der Windinnovationen her? Aus Spanien und Portugal.

"Autoritäre Regimes sind im schlimmsten Sinne populistisch. Sie versprechen viel und halten wenig."

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Die Autokraten sind auf dem Vormarsch. Gefährden sie die Demokratien als das bessere Modell für Wirtschaft und Gesellschaft?

Nein, autoritäre Regierungen sind wirtschaftlich wenig erfolgreich. Das Wachstum in China hat sich verlangsamt. Auf einem hohen Niveau, sie haben sehr gut aufgeholt, aber wenn man die Lebensqualität betrachtet, und ein Teil der Lebensqualität besteht darin, die Kontrolle über wichtige Entscheidungen zu haben, die das eigene Leben betreffen, dann sind autoritäre Regierungen schrecklich.

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Und trotzdem werden sie gewählt.

Aber das ist eine andere Frage. Wir haben lange Zeit zu wenig in die Bildung investiert, und wir haben zugelassen, dass 40 Jahre Neoliberalismus Ressentiments geschaffen haben. Das ist schwer rückgängig zu machen. Wir müssen es aber. Autoritäre Regimes sind im schlimmsten Sinne populistisch. Sie versprechen viel und halten wenig. Dazu gehört auch, dass sie nicht an Haushaltsbeschränkungen glauben. Also geben sie vor einer Wahl eine Menge Geld aus. Aber das ist nicht nachhaltig, denn sie schaffen kein innovatives Umfeld. Die meisten von ihnen sind bildungsfeindlich. Wie Trump hassen sie die Universitäten. Wie kann man eine innovative Wirtschaft haben, wenn man die Universitäten hasst? Sie sind in einer Sackgasse.

Wenn der Neoliberalismus am Ende ist, was ist die Alternative? Die soziale Marktwirtschaft?

Das ist die einzige Richtung, in die wir gehen können. Wir müssen sie weiter ausbauen.

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