Mitten im Wahlkampf: Spanien übernimmt den EU-Ratsvorsitz

Spanien übernimmt die EU-Präsidentschaft, steht aber gerade vor Neuwahlen.

Pedro Sánchez hat große Ziele für die EU-Präsidentschaft Spaniens ab Juli. Aber wird er auch das gesamte Halbjahr Premier sein?  | FOTO: JOSÉ LUIS ROCA

Pedro Sánchez hat große Ziele für die EU-Präsidentschaft Spaniens ab Juli. Aber wird er auch das gesamte Halbjahr Premier sein? | FOTO: JOSÉ LUIS ROCA / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Anfang Juli, also an diesem Samstag, übernimmt Spanien zum fünften Mal in der Geschichte den turnusmäßigen Vorsitz des Rats der Europäischen Union. Mit der EU-Präsidentschaft hat die Regierung nicht nur viel Einfluss auf die Arbeit und Agenda der 27 Mitgliedsstaaten. Als Gastgeber zahlreicher Gipfel und Treffen auf ministerialer Ebene kann das Land auch gut Eigenwerbung machen. Während des spanischen Halbjahres findet in allen 17 Regionen mindestens ein EU-Treffen statt. Ende Oktober etwa weilen die Tourismusminister der EU in Palma.

In der Vergangenheit machten die jeweiligen spanischen Regierungen viel aus dem EU-Vorsitz. Doch dieses Mal ist alles anders wegen den vorgezogenen Parlamentswahlen am 23. Juli. Es sei gerade mächtig viel los, aber man arbeite mit „absoluter Normalität“ an der Planung der EU-Präsidentschaft, versicherten hohe Regierungsmitarbeiter bei einem Treffen mit der Presse Anfang dieser Woche.

Europa „reindustrialisieren“

Auch Ministerpräsident Pedro Sánchez behauptet, dass man sich durch den Wahlkampf nicht von der internationalen Verpflichtung ablenken lassen werde. „Die Demokratie ist nie ein Problem. Das ist nicht das erste Mal, dass Wahlen während einer EU-Präsidentschaft stattfinden“, erklärte der Sozialist im Juni bei der Vorstellung der spanischen Ziele. So fanden im ersten Halbjahr 2022 unter dem französischen EU-Vorsitz Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, bei denen Emmanuel Macron im Amt bestätigt wurde.

Doch anders als Macron entschied Sánchez, die traditionelle Rede des neuen Ratsvorsitzenden vor dem Europaparlament zu Beginn des Halbjahres zu verschieben, und zwar von Juli auf September, wenn dann schon mehr als zwei Monate der Präsidentschaft vorbei sein werden. Und die Frage ist, ob Sánchez dann noch im Amt ist oder ob nach den Wahlen am 23. Juli die Regierung wechselt.

Prioritäten bereits abgesteckt

Der Sozialist hat die Prioritäten des Halbjahres bereits abgesteckt, abgesehen vom Umgang mit den Dauerkrisen wie dem Krieg in der Ukraine oder den Migranten. Spanien will zur „Reindustrialisierung“ Europas beitragen, und zwar durch die Förderung strategisch wichtiger Branchen wie etwa der Halbleiterindustrie. Das Ziel: die wirtschaftliche Abhängigkeit von Drittstatten zu reduzieren, wobei der Blick vor allem auf China fällt. In diesem Sinne misst man in Madrid dem bevorstehenden Gipfel der EU mit der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) in Brüssel große Bedeutung zu. Spanien will seine historische und kulturelle Nähe zu diesen Ländern nutzen, um bei den Handelsabkommen einen Durchbruch zu erreichen. Für die beiden Gipfeltage am 17. und 18. Juli will Sánchez den Wahlkampf unterbrechen, um persönlich anwesend zu sein.

Für eine größere energiepolitische Unabhängigkeit strebt Madrid zudem eine Reform des europäischen Strommarktes an. Portugal und Spanien haben zuletzt mit der von Brüssel genehmigten „iberischen Ausnahme“ vom europäischen Preisermittlungssystem der Stromtarife gute Erfahrungen gemacht. Doch andere Länder wie Deutschland wollen am bestehenden System festhalten.

Die spanische EU-Präsidentschaft muss auch bei den neuen Fiskalregeln vorankommen. Spanien tritt wie viele andere für flexi-blere Vorgaben bei Staatsdefizit und Schulden ein, die über einen langjährigen Zeitraum gestreckt werden sollen. Sánchez strebt außerdem eine Mindestbesteuerung für Konzerne in der EU an, um dem Steuerwettbewerb einen Riegel vorzuschieben.

Internationale Karriere?

In den drei Wochen bis zum Wahltag wird Sánchez von seiner internationalen Agenda öfters vom Wahlkampf abgelenkt werden, etwa auch durch den Nato-Gipfel am 11. und 12. Juli in Litauen. Das bedeutet weniger Zeit für die Wähler auf der Straße, aber andererseits eine Chance, als Staatsmann zu punkten. Manche Kommentatoren unterstreichen, dass es für Sánchez persönlich auch darum geht, sich für eine internationale Rolle zu empfehlen, falls die Wahlen in die Hose gehen.

Denn derzeit liegt die Volkspartei (PP) in allen Umfragen vorne und könnte mit den Rechtspopulisten eine absolute Mehrheit erlangen. Auch wenn Vox oft europakritische Töne von sich gibt, glaubt man in Politikkreisen nicht, dass sich im Falle eines Regierungswechsels wesentlich etwas an der EU-Agenda ändern würde. Dafür wäre die Zeit zu knapp.