Tim Tegtmeyer erinnert sich nur noch schemenhaft daran, wie seine Eltern ihm verkündeten, dass die Familie von Hannover nach Mallorca auswandere. Zehn Jahre alt war er damals. „Vor allem mein Vater wollte es. Meine Mutter war nicht so begeistert. Meine ältere Schwester hat nur geweint. Ich habe mir wenig Gedanken darüber gemacht, ich fand die Fotos vom Pool auf der Finca cool, auf der wir leben sollten.“

Doch auf die erste freudige Aufregung folgten Rückschläge. In der Schule in Artà verstand Tim die Sprachen nicht. „Ich wusste vorher gar nicht, dass es so etwas wie Katalanisch gibt, und Spanisch konnte ich auch nur ein paar Wörter.“ Auf dem Schulhof blieb Tim allein, ebenso wie nachmittags auf der idyllischen, aber abgelegenen Finca. „Rückblickend würde ich sagen, dass meine Eltern es ein bisschen vergeigt haben. Die Auswanderung hat auch mein späteres Leben negativ beeinflusst“, sagt Tegtmeyer heute, mit 33 Jahren.

Fälle wie den seinen gibt es zahlreiche. Das weiß kaum jemand besser als Joachim Schreck, der in Palma eine deutschsprachige Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie betreibt. Seine Patienten haben fast alle eine Auswanderung miterlebt. „Nicht immer ist sie der Grund für die Vorstellung bei der Therapie, aber fast immer spielt sie eine Rolle“, so Schreck.

Häufigstes Problem: aus gewohntem Umfeld herausgerissen

Häufigstes Problem: „Die Kinder fühlen sich aus ihrer Peergroup und ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen.“ Teilweise sind Depressionen und Angststörungen die Folge. „Natürlich wird nicht jedes Kind, das nach Mallorca auswandert, krank. Im Gegenteil: Der Umzug in ein anderes Land kann auch sehr bereichernd sein“, sagt Schreck. Für den Aufbau mehrsprachiger Kompetenzen und interkulturellen Verständnisses genauso wie für mentale Flexibilität. Entscheidend sei, wie die Eltern an die Sache herangingen, gibt der Psychiater zu bedenken.

„Oft sind die Eltern hin und weg von Mallorca und sehen nicht, dass nicht alles, was für sie toll ist, vom Meerblick mit Palmen über die Finca-Idylle, automatisch auch für die Kinder gut sein muss“, sagt Schreck. Stattdessen sei es wichtig, schon vorher viel mit den Kindern zu sprechen und auch zu thematisieren, dass es durchaus schwierig für sie werden kann. „Und die Eltern sollten auch klarstellen, dass sie die Entscheidung treffen und nicht die Kinder. Das entlastet die Kinder später, wenn es doch nicht so toll wird und nimmt ihnen Verantwortung.“

Kinder bekommen kein Mitbestimmungsrecht

Dass Kinder kein Mitbestimmungsrecht bei der Umzugsfrage haben sollten, findet auch Agnes Justen-Horsten. Die Psychologin und Psychotherapeutin ist spezialisiert auf die Begleitung von Menschen und ihren Familien, die berufsbedingt mobil leben. „Kinder schätzen häufig das, was sie kennen, am meisten. Wenn man sie fragt, ob sie dauerhaft in ein anderes Land gehen wollen, sagen sie normalerweise Nein.“ Die Entscheidung müssten die Eltern allein treffen, „aber es ist wichtig, sich dabei auch in die Kinder hineinzuversetzen und gut abzuwägen“.

Die Sorgen des Nachwuchses mit „Freunde findest du überall“ abzutun, sei nicht zielführend. „Stattdessen sollte man gemeinsam überlegen, wie neue Kontakte geknüpft werden könnten.“ Längere Besuche auf der Insel – und im Idealfall auch Gespräche mit anderen Kindern vor Ort – könnten vor dem Umzug helfen, den Kindern Mallorca ans Herz zu legen und realistischer einschätzen zu können, wie es dem Nachwuchs dort ergehen wird.

Plötzlich in einer anderen Welt

„Meine Eltern flogen damals alleine auf die Insel, um die Finca zu besichtigen. Meine Schwester und ich sahen alles erst, als wir hier ankamen, um zu bleiben“, erinnert sich Tim Tegtmeyer. Mitten im Schuljahr war das. „Ich verstand nichts von dem, was im Unterricht geredet wurde und bekam praktisch mein gesondertes Lernprogramm. Die Lehrer gaben mir Bücher für Kleinkinder auf Katalanisch, damit ich die Sprache lerne. Die sollte ich lesen, während die anderen den normalen Unterricht machten. Das war mir sehr peinlich.

Immer mehr zog sich der Junge zurück. Noch heute, Jahrzehnte später, spricht er kein Mallorquinisch. „Ich verstehe es natürlich, aber ich antworte auf Spanisch. Und auch darin fühle ich mich nach wie vor nicht so wohl wie im Deutschen.“ Auf der Finca gab es nur deutsches Fernsehen, auch die Eltern konnten die Sprache kaum. „Da hatte ich kaum Unterstützung“, sagt Tegtmeyer.

Wichtig: Charakter des Kindes

Ein wichtiger Aspekt, den Eltern bei der Frage, ob sie auf die Insel auswandern sollen, berücksichtigen sollten, ist auch der Charakter des Kindes. „Wenn man ein Kind hat, dem es ohnehin schwerfällt, sich in Neues einzufinden, spricht das eher gegen den Umzug“, so Agnes Justen-Horsten. „Letztlich ist es immer eine Einzelfallentscheidung, in die viele Aspekte mit hineinspielen. Und man darf nicht vergessen: Glückliche Kinder brauchen auch glückliche Eltern“, sagt Joachim Schreck.

Das glaubt auch Betty Weber, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Die 34-Jährige ist selbst im vergangenen April von Berlin nach Mallorca ausgewandert, allein mit ihren Söhnen Luis (5) und Raul (1,5). Viele hätten ihr zuvor davon abgeraten. „In Deutschland ist es doch einfacher und sicherer“, so das Argument besorgter Freunde und Verwandte.

Aufwachsen in einem internationalen Umfeld

„Meine Frage ist aber: Was will ich und was ist mein Ziel? Klar ist es hier auf Mallorca nicht einfacher, und man stößt an seine Grenzen, aber mir ist es das wert. Ich mache es nicht nur für mich, sondern auch für die Kids. Ich will, dass sie in einem internationalen Umfeld aufwachsen. Und nur, wenn ich glücklich bin, kann ich das an sie weitergeben. Ich will Liebe und Freude und Glück und musste aus dem Hamsterrad in Deutschland raus“, berichtet sie.

Weber kannte die Insel bereits. Schon bevor sie Mutter wurde, hatte sie länger auf Mallorca gewohnt. Dann reiste sie mit Luis viel umher. Eigentlich wollte sie sich schon 2020 eine stabile Basis auf der Insel schaffen. „Aber wegen Corona zogen wir doch noch ein Jahr nach Berlin“, berichtet Weber. Ein Jahr, in dem ihr Sohn die spanische Sprache komplett verdrängte. „Das hat mir Sorgen gemacht. Auch als wir dann wieder auf der Insel waren, fiel ihm das Spanischsprechen zunächst schwer. Aber mittlerweile geht es. Manchmal merkt er gar nicht, wenn er Spanisch redet.“

Glücklicherweise sei Luis durch das viele Herumreisen sehr locker, was Ortswechsel angehe. „Als ich ihm davon erzählte, dass wir von Berlin nach Mallorca ziehen, hat er direkt zugestimmt. Dadurch, dass wir schon so viele Abenteuer erlebt haben, hat er eine enge Bindung an mich und vertraut mir total, wenn ich ihm Neues vorschlage.“

Familienzusammenhalt im Ausland

Wichtig sei, dass der Familienzusammenhalt im Ausland so bewusst wie möglich gelebt wird. „Das Schwierigste ist für Kinder nicht der Ortswechsel, sondern der Wandel ihres sozialen Umfelds“, sagt Agnes Justen-Horsten. „Kleine Kinder sind viel stärker an ihre Eltern gebunden als Jugendliche. Entsprechend ist ein Umzug mit der Familie auch einfacher, je jünger die Kinder sind.“

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Ab der 4. oder 5. Klasse bezögen sich die Jugendlichen langsam mehr auf ihre Freunde als auf die Familie. „Auswanderereltern müssen ihren Nachwuchs dann zu Freunden und Hobbys fahren und unterstützen, damit sie Anschluss finden“, so Schreck. Gerade die Deutschen schickten ihre Kinder auf Mallorca oft auf private oder internationale Schulen, die nicht immer in der Nähe des Wohnorts lägen. „Das ist gegebenenfalls gut für den Abschluss, und damit wollen sie es den Kindern sprachlich leichter machen. Aber nachmittags sind die Klassenkameraden dann häufig weit weg.“

Auch Tim Tegtmeyer, der vor 23 Jahren als Kind auswanderte, hatte anfangs auf Mallorca keine außerschulischen Aktivitäten. Mittlerweile sind seine Eltern längst zurück nach Hannover gezogen, er selbst lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern in Artà. „Ich fühle mich immer noch nicht spanisch. Wir halten uns offen, in den nächsten Jahren nach Deutschland zu ziehen“, sagt er. Das würde auch für seine Kinder ein Auswandern bedeuten. „Das Gute ist, dass ich ein Bewusstsein dafür habe, was es für Kinder bedeutet. Und dass ich es anders machen werde als meine Eltern.“