Mallorca Zeitung

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Palmas Schätze in der Neustadt, die fast kein Mallorca-Urlauber sieht

Die Viertel jenseits des Innenstadtrings gelten bei Einwohnern wie Besuchern als unschön – gerade im Vergleich zur Altstadt. Was bei der Stadterweiterung schiefging und warum der Eixample mehr Aufmerksamkeit verdient

Die Plaça de Toros, damals und heute. Arxiu cronista de la ciutat / DM

Als Palma 1897 einen Plan zur Erschließung des Gebiets außerhalb der damaligen Stadtmauern ausschrieb, kamen zwei Projekte auf den Tisch. Einer der beiden Entwürfe stammte aus Cartagena, trug den Namen „Salus Populi“ (Volksgesundheit) und orientierte sich stark am Eixample (deutsch: Erweiterung) von Barcelona: ein rechtwinkliges Straßenraster mit abgeschrägten Gebäudeblöcken, ähnlich einem Schachbrett. Der andere Entwurf stammte vom städtischen Ingenieur Bernat Calvet, trug den Namen „Felix qui potuit cognoscere causas“ (Glücklich, wer die Gründe zu erkennen vermag) und orientierte sich an Paris und Wien: Boulevards, die bei der Erweiterung der Altstadt deren Struktur in konzentrischen Kreisen nach außen hin fortsetzen.

Dass der zweite Entwurf gewann, zeigt ein Blick auf die heutige Karte von Palma. Und nicht nur die Struktur von Palmas Neustadt, gelegen zwischen dem Innenstadtring und der Ringautobahn, unterscheidet sich deutlich vom Eixample in Barcelona. Im Gegensatz zum hippen Viertel im Norden der katalanischen Metropole führt der Eixample von Palma in jeder Hinsicht ein Schattendasein. „Während es über Palmas Zentrum historische und architektonische Infos in Hülle und Fülle gibt, gelten die Gebiete außerhalb des Innenstadtrings bei vielen als reine Wohngegend und sind für die meisten Menschen Terra incognita“, sagt Cristina Llorente.

Die Architektin ist Vorsitzende von Palma XXI, einer Initiative, die nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart der Stadt aufarbeitet, sondern auch deren Zukunftsperspektiven analysiert. Um die weniger bekannten Aspekte Palmas unter Residenten bekannter zu machen, hat die Vereinigung inzwischen neun Faltblätter mit Routen herausgegeben – alle verlaufen außerhalb des historischen Zentrums der Balearen-Hauptstadt. Die guies urbanes sind eine Art Gegenentwurf zu klassischem Sightseeing und konventionellen Reiseführern – hinsichtlich der Zielgruppe, aber auch der gezeigten Objekte, die zwar neben den Altstadtpalästen erblassen mögen, dafür aber helfen, den architektonischen, kulturellen und sozialen Reichtum von Palmas Neustadt zu verstehen.

Weg mit der Stadtmauer

Die Rahmenbedingungen für die Erweiterung der Altstadt waren in Palma nicht viel anders als in den meisten anderen Städten mit mittelalterlicher Stadtmauer. Ende des 19. Jahrhunderts hatte diese ihre Schutzfunktion verloren und wurde zum Problem, hausten zwischen ihnen doch die Menschen beengt und unter hygienisch problematischen Bedingungen. Die murades galten zunehmend als eine Art steinerner Gürtel, der den Bewohnern die Luft zum Atmen nimmt. Drum herum befand sich ein mehr als ein Kilometer breiter Gürtel, der aus militärischen Gründen weitgehend unbebaut geblieben war.

Ein spanisches Gesetz gab den Rahmen für die nötige Erweiterung vor, verlangte unter anderem eine öffentliche Ausschreibung. Und so wie in Barcelona der Pla Cerdà von 1860 den städtebaulichen Weg bis in heutige Zeiten vorgab, tat dies in Palma der Pla Calvet aus dem Jahr 1901, benannt nach dem siegreichen Stadtarchitekten. Im Jahr darauf begann der langwierige Abriss der mittelalterlichen Stadtmauern, die Platz machten für den heutigen Innenstadtring, die Avingudes. Betraut mit der Umsetzung des Pla Calvet wurde Stadtarchitekt Gaspar Bennàzar, der gleichzeitig auch mehrere herausragende Bauprojekte im Eixample firmierte.

Palma 1901: Die Karte zeigt das Gebiet des Eixample, der laut dem Pla Calvet außerhalb der bisherigen Stadtmauern entstehen sollte. Carta històrica de Palma (Palma XXI)

Anfangs herrschte noch Zurückhaltung, in der Neustadt zu bauen, „man traute dem Eixample nicht so recht“, sagt Llorente. Während der ersten Jahre entstanden zwar die ersten privaten und öffentlichen Gebäude entlang der Avingudes und an weiteren Orten, aber es war eine unstete Entwicklung ohne klare Strategie. Auf den historischen Fotos erstaunt im Vergleich zu heute vor allem die Leere rings um die ersten ausgeführten Bauten. „Diese vereinzelten Projekte, die wie Pilze in einer noch verwaisten Gegend hochschossen, konnten noch kaum private Investoren anlocken, die weiter lieber in der Altstadt bauten“, heißt es in einem der Guides. Das Wachstum beschränkte sich neben den Avingudes vor allem auf die damaligen Gewerbegebiete La Soledat und Son Gotleu sowie die Umgebung der Bahnhöfe der Eisenbahnstrecke nach Inca.

Die Architekten

Während im Eixample von Barcelona vor allem der gefeierte Architekt Antoni Gaudí mit dem Umbau der Casa Batlló oder der Casa Milà (La Pedrera) für Hingucker sorgte, die bekanntlich noch heute ihre Wirkung bei Besuchern tun, sind die Namen der Architekten von Palmas Neustadt weniger bekannt. „Ihre Bauten sind deswegen aber nicht weniger interessant“, sagt Llorente.

Wer kennt ihn nicht, den ehemaligen Schlachthof s´Escorxador, mit Programmkino, Tapas-Tempel, Bibliothek und Supermarkt? Das Gebäude ist von 1906, bis 1982 wurde dort geschlachtet. Zeichnung: Liliana Boffi

Innehalten könnten Passanten etwa auf dem Innenstadtring auf Höhe des Carrer Sindicat, um die Fassade von Can Maneu zu betrachten. Das im Auftrag des Industriellen Joan Oliver Florit errichtete Wohngebäude mit seinen verglasten Erkern, floralen Motiven und der orientalisierenden Dachstruktur ist ein Werk Bennàzars, genauso wie zahlreiche weitere Auftragsarbeiten der damaligen Bourgeoisie, daneben aber auch wichtige Projekte der öffentlichen Hand wie der Schlachthof s’Escorxador, der heute unter anderem das Programmkino CineCiutat beherbergt, oder die Plaça de Toros. Anfangs arbeitete Bennàzar nach den Regeln des katalanischen Jugendstils (Modernisme), später wurden seine Bauten eklektischer und historisierend.

Plaça de Toros. Arxiu cronista de la ciutat

Überschaubarer ist das architektonische Erbe von Francesc Roca, ebenfalls Vertreter des Modernisme. Can Segura, gelegen am Innenstadtring der Balearen-Hauptstadt auf Höhe des Carrer del 31 de Desembre, gilt mit seinen Erkern und schmiedeeisernen Verzierungen als herausragendstes Privatgebäude, das auf den Avingudes nach dem Abriss der Stadtmauern entstand, verlor mit einer Sanierung 1945 aber zum Teil seinen Charme.

Can Segura. Arxiu cronista de la ciutat

Als dritter wichtiger Architekt des Eixample sowie Rivale von Bennàzar gilt Guillem Forteza, der 1933 Stadtarchitekt werden sollte. Der Vertreter des Noucentisme, einer katalanischen Form des Neoklassizismus, ist vor allem für Es Sindicat bei Felanitx und den Palau de Marivent in Cala Major bekannt. Aber auch in Palmas Neustadt hinterließ er Spuren, entwarf unter anderem die Plaça de les Columnes und die Markthalle in Pere Garau.

Mit der anfänglichen Entwicklung von Palmas Eixample ging er hart in Gericht. Das Problem seien weniger die architektonische Qualität der errichteten Gebäude als das armselige städtebauliche Konzept. In einem Artikel von 1921 schrieb er: „Wenn von der monströsen Erweiterung Barcelonas gesagt wurde, sie sei eine Schande für Europa, so können wir von der unseren, wenn wir sie gedanklich mit der Renovierung Roms, dem neuen Friedhof von Genua und anderen benachbarten Monstrositäten verbinden, mit Sicherheit sagen, dass sie ein Affront für das Mittelmeer ist.“

Die Viertel

Vor allem die Werke dieser drei Architekten, aber auch moderne Wohngebäude, Militärbauten oder beispielsweise Industrieanlagen werden in den guies urbanes erklärt. In Pere Garau sind das etwa Les Cent Cases („Die hundert Häuser“), ein in den 1920er- Jahren auf Initiative einer Kooperative entstandener Wohnkomplex.

Im Viertel Santa Catalina die Eisenwarenhandlung La Central aus dem Jahr 1908 mit einer Fassade im Art-Nouveau-Stil. Im Viertel La Soledat die frühere, inzwischen restaurierte Textilfabrik Can Ribas. Gerade in La Soledat, dem heutigen Brennpunkt-Viertel, seien sehenswerte Details des Modernisme Popular zu entdecken, erklärt Llorente – also keine Prachtbauten wie das Gran Hotel in Palmas Zentrum, sondern Elemente des katalanischen Jugendstils wie beispielsweise Keramikfragmente oder florale Muster an Fassaden und auf Treppen konventioneller Wohnhäuser.

Beispiel für Modernisme popular. Sofia Azorín

Gabriel Alomar

In die Fußstapfen von Bennàzar und Forteza trat ab den 1940er-Jahren des 20. Jahrhunderts der in Barcelona und Massachusetts ausgebildete Architekt Gabriel Alomar. Sein Konzept für einen neuen Raumordnungsplan gewann im Jahr 1941 eine städtische Ausschreibung. Mit dem Pla Alomar von 1943 begann die zweite Phase von Palmas Eixample. Der Bebauungsplan sollte nicht nur Fehler des vorherigen Pla Calvet ausbügeln, sondern auch die Altstadt von Palma modernisieren, wo etwa breitere Straßen für den Autoverkehr wie der Boulevard Jaume III. entstanden. Darüber hinaus bezog der Pla Alomar das weitere Umland der Balearen-Hauptstadt mit ein, im Osten Es Rafal, Son Gotleu oder das heutige Nou Llevant, im Norden Son Oliva oder Camp Redó, im Westen Son Dureta, Son Armadams oder El Terreno.

Das Problem: Außerhalb des vom Pla Clavet definierten Gebiets war vielerorts illegal gebaut worden, die Neustadt chaotisch besiedelt. Das Konzept von Alomar bestand nun darin, die illegalen Siedlungen in einem erweiterten Eixample zu integrieren, die Neustadt gleichzeitig durch eine äußere Ringstraße vom Umland abzugrenzen – das Konzept der Via de Cintura (Ma-20) nahm Form an, auch wenn die heute vielbefahrene Ringautobahn erst ab 1958 gebaut werden würde. „Die Stadt hatte 30 Jahre gebraucht, um die steinerne Stadtmauer abzureißen. Was man nicht wusste, war, dass sie Jahre später von einer noch massiveren ‚Mauer‘ aus Autos umringt sein würde“, heißt es auf der Website der Initiative Palma XXI.

Dann die Bauwut

Die lange Zurückhaltung bei der Besiedlung des Eixample ging in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine rasante und ungebremste Bebauung über. „Vor allem ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts herrschte ein regelrechtes Chaos, was man vor allem an den Gebäudehöhen sieht“, sagt Llorente. Hinzu kamen zu viele Autos in zu engen Straßen oder auch frei stehende Kommunwände – Trennwände, die eigentlich von zwei Gebäuden geteilt werden.

Das ungeschützte architektonische Erbe des Eixample, es wurde innerhalb kurzer Zeit überwuchert vom billigen Wohnungsbau. Während Palmas Kathedrale auf den ersten Blick den Besuchern ins Auge fällt, braucht es für die Schätze der Neustadt Anleitung und auch etwas Geduld. Sie zu erkunden, sei aber auch deswegen besonders spannend, weil sie die jüngste Geschichte von Palmas Bewohnern erzählen. „Die Menschen erinnern sich noch an viele Anekdoten“, sagt Llorente. Was woanders Legende ist, sind hier Kindheitserinnerungen.

Palmas Eixample entdecken

Die Faltblätter mit den Routen (bislang nur auf Katalanisch) gibt es bei Agapea und Rata Corner in Palma, 

palmaxxi.com/es/guies-urbanes-de-palma

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