Historischer Schritt: Spanien ersetzt abwertenden Begriff für Menschen mit Behinderung in der Verfassung

Nach Jahrzehnten gab es nun einen parteiübergreifenden Konsens für die Änderung - mit Ausnahme von Vox

Parteiübergreifender Applaus für die Reform der spanischen Verfassung.

Parteiübergreifender Applaus für die Reform der spanischen Verfassung. / José Luis Roca

Es mag nur ein einziges Wort sein, aber für mehr als 4.300.000 Menschen in Spanien geht es dabei um eine Frage der Menschenwürde: Im spanischen Begriff "disminuido" (behindert) schwingt die Konnotation von "weniger wert sein" mit. Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte schon vor zehn Jahren versprochen, den seit 1978 verwendeten, abwertenden Terminus aus dem Artikel 49 der Verfassung zu tilgen und durch den Begriff "personas con discapacidad" (Menschen mit Behinderung) zu ersetzen.

Nun ist ihm dieses Vorhaben, aller politischen Gräben zum Trotz, tatsächlich geglückt: Die Verfassungsänderung wurde am Donnerstag, den 18. Januar, im Parlament fast einstimmig angenommen. Nur die rechtspopulistische Partei Vox, die sich nicht wie angekündigt enthielt, stimmte an diesem historischen Tag dagegen. Wer mit Sánchez hingegen bei dem Thema ausnahmsweise einmal an einem Strang zog, war der PP-Vorsitzende Alberto Núñez Feijóo - die PP und die Sozialisten hatten den Entwurf für die Express-Reform gemeinsam eingebracht.

"Sozialgeschichte geschrieben"

Der Weg dorthin war lang und zäh. Vor 45 Jahren konnte es schon als Erfolg gewertet werden, dass die spanische Verfassung überhaupt einen Artikel enthielt, der sich mit Menschen mit Behinderung befasst, während diese in vielen Verfassungstexten auf der Welt überhaupt nicht erwähnt werden. Doch bereits vor fast 20 Jahren kritisierte die Bürgerbewegung für Menschen mit Behinderungen den Begriff als veraltet und diskriminierend.

Die Reform des Verfassungstextes wurde jedoch immer wieder hinausgezögert, eine 2018 von Pedro Sánchez initiierte Korrektur geriet ins Stocken. Umso größer ist nun die Freude darüber, dass die beiden großen Parteien ihre sonstigen Differenzen überwinden konnten, um die Änderung auf den Weg zu bringen. Es sei "Sozialgeschichte" geschrieben worden, sagte Luis Cayo Pérez Bueno, Vorsitzender der spanischen Vereinigung von Menschen mit Behinderungen (CERMI), in der die wichtigsten Organisationen zusammengeschlossen sind und die treibende Kraft hinter der Änderung war.

Alberto Núñez Feijóo mit Luis Cayo Pérez Bueno, dem Vorsitzenden der spanischen Vereinigung von Menschen mit Behinderungen (CERMI)

Alberto Núñez Feijóo mit Luis Cayo Pérez Bueno, dem Vorsitzenden der spanischen Vereinigung von Menschen mit Behinderungen (CERMI) / EPC

Die Reform des Begriffs sei "ein großer Schritt nach vorn", sagte auch Maria Cabré von der Stiftung Aura, die sich auf die Integration von Menschen mit Behinderungen in Katalonien spezialisiert hat. "Sprache ist wichtig, weil sie Sichtweisen und Wahrnehmungen prägt und unsere Art und Weise widerspiegelt, die Realität zu verstehen. Wenn man den Begriff ändert, ändert sich auch die Wahrnehmung, und das verleiht der Person Würde. Menschen mit Behinderungen, vor allem die neuen Generationen, werden sich ihre Realität auf eine andere Weise aufbauen können", so Cabré.

Volle persönliche Autonomie und Inklusion

Nicht nur der Verweis auf "disminuidos físicos, sensoriales y psíquicos" (Körper-, Sinnes- und geistig Behinderte) wird in der Verfassung gestrichen und ersetzt, die Änderungen gehen darüber hinaus. Der neue Text, der kommende Woche endgültig verabschiedet werden soll, sieht vor, dass "die Behörden eine Politik fördern, die die volle persönliche Autonomie und soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderung in einem allgemein zugänglichen Umfeld gewährleistet". Er fügt außerdem hinzu, "die Beteiligung ihrer Organisationen unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen zu fördern" und dass "die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Minderjährigen mit Behinderungen besonders berücksichtigt werden".

"Wir erkennen gesetzlich an, dass eine Behinderung die volle Ausübung der persönlichen Autonomie nicht verhindert. Im Gegenteil, es sind das Umfeld, die Barrieren, die Hindernisse, die die Freiheit von mehr als 4 Millionen Menschen einschränken", sagte Sánchez über die erste Verfassungsreform seit 45 Jahren mit "eindeutig sozialem Inhalt". Es sei nun an der Zeit ist, den Worten Taten folgen zu lassen und die Rechte in die Realität umzusetzen. /bro

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