Das Foto zeigt ein Ehepaar mit seiner kleinen Tochter, die zwischen Mutter und Vater auf einem Stuhl steht. Alle schauen konzentriert in die Kamera und sind in Sonntagskleidung. Für ein Foto zu posieren, ist eine ernste Sache, etwas Besonderes. Der Vater unterstreicht das Festliche des Anlasses durch eine Zigarre, die er lässig in der rechten Hand hält, seinen Hut in der linken. Die Mutter trägt mallorquinische Tracht und um die Schultern ein festgestecktes Tuch mit Fransen, die Haare streng nach hinten frisiert, in einer Hand einen geschlossenen Fächer. Die kleine Tochter, etwa zwei Jahre alt, zeigt ein sicher neues, helles (rosa?) Rüschenkleid. Die Mutter fasst sie fest an der Hand, damit sie auf dem Stuhl schön gerade steht. Unter ihren Schuhchen liegt ein weißes Stück Stoff zum Schutz des Stuhlgeflechtes. Ein perfekt gestalteter Auftritt. Vielleicht ist heute der Geburtstag der Kleinen.

Der Pfarrer und sein Fotostudio

Der Pfarrer und sein Fotostudio Fundació Toni Catany

Im Hintergrund deutet ein etwas schief hängendes Kaliko-Rollbild ein elegant geschwungenes Treppengeländer an, verdeckt aber die raue Mauer des Innenhofes nicht. Ein kleiner, verschlissener Teppich, auf dem die Fotografierten stehen, liegt auf den abgelaufenen, runden Bodenkieseln, typisch für Innenhöfe oder Eingänge mallorquinischer Häuser. Eine ernsthafte, aber auch irgendwie ironische Inszenierung eines nachgestellten Fotostudios in einem bäuerlichen Innenhof.

Ein Leben lang Llucmajor

Es sind Fotos, die erst beim zweiten Hinsehen faszinieren. Sie entstanden zwischen 1900 und 1925 im Innenhof des Wohnhauses von Tomàs Monserrat, Pfarrer der Gemeinde Llucmajor im sogenannten Migjorn vom Mallorca. Monserrat (1873–1944) hatte viele Interessen und Begabungen und stammte aus einer begüterten Bauernfamilie. Aber er entschied sich für die Religion, wurde Pfarrer in seiner Heimatgemeinde – und blieb dort sein ganzes Leben lang. Diese Verwurzelung dokumentierte er in Fotos. Er fotografierte in seiner Freizeit vor allem Menschen, seine Mitmenschen in der Gemeinde Llucmajor. Denn von seiner Leidenschaft, der Fotografie, wollte er nicht lassen.

Anfang des 20. Jahrhunderts war auf der Insel ein Foto noch etwas Außergewöhnliches, eine fremde, teure Technik. Wer sich fotografieren lassen wollte und das Geld dafür hatte, fuhr in die Inselhauptstadt Palma, aber auch in Llucmajor gab es schon ein professionelles Fotostudio. Tomàs Monserrat, der Gemeindepfarrer, interessierte sich schon früh für diese neue Möglichkeit, Menschen und Situationen festzuhalten, damals noch auf Glasplatten. Er kaufte sich die nötige Ausrüstung und installierte im Innenhof seines Hauses ein offenes „Studio“.

Als Fotos noch etwas ganz Besonderes waren

Sonntags nachmittags fotografierte er dort kostenlos – immer in derselben Ecke des Hofes und immer zur selben Nachmittagsstunde. Die Fotos hatten alle dasselbe Format und weisen alle die gleichen Dekorationselemente auf, das gibt ihnen etwas Serielles: der Vorhang im Hintergrund, vom Pfarrer selbst mit Treppenmotiv bemalt, der kleine Teppich auf dem Boden, ein Stuhl, ein Tischchen. Frauen gab er gern einen Fächer in die Hand, Männer hielten oftmals ein Buch. Bei Einzelfotos konnte die Person sich an einer Stuhllehne festhalten, Frauen bekamen auch mal einen Schirm als Stütze. Das geschnitzte dreibeinige Altartischchen dekorierte er mit Blumen, Büchern (nur bei den Männern), dem Grammophon oder gar einem von ihm selbst ausgestopften Vogel. Es war eine minimalistische Ausstattung, die es vielleicht den Fotografierten erleichtern sollte, sich wie in einem „Studio“ zu fühlen. Eine Illusion schaffte sie nicht, täuschte diese nur vor und erzeugte – bewusst oder nicht? – einen frappierenden Verfremdungseffekt.

Eines der Fotos.

Eines der Fotos. FUNDACIÓ TONI CATANY

Man sieht den Posierenden die Anspannung auf ihren ernsten Gesichtern an. Sie hatten sich in ihre Sonntagskleidung geworfen, die Männer mit Hemd, Hut und Weste, die Frauen in Tracht mit eingeschnürter Taille und bodenlangem Rock, das Haar scharf nach hinten gekämmt und mit dem feinen mallorquinischen Schleier volan bedeckt. Bei den Männern verraten die Schuhe ihren harten Alltag: Sie sind abgeschabt, an der Spitze abgestoßen und vielleicht ihr einziges Paar. Tagsüber tragen sie sicher die üblichen avarques, die inseltypischen Sandalen, oder gehen barfuß.

Der Pfarrer wird es schon wissen und richtig machen

Die Kinder auf den Fotos wirken weniger angespannt, manche verkneifen sich das Kichern und würden gern eine Fratze ziehen, aber das trauen sie sich doch nicht. Immerhin ist er der Pfarrer. Warum er, der für sie predigt, den Sterbenden die Sakramente gibt und viele Kilometer mit dem Rad in der großen Gemeinde zu ihnen unterwegs ist, sie jetzt hier fotografiert, verstehen sie nicht ganz – aber sie vertrauen ihm. Er wird es schon wissen und richtig machen.

Denn dieser Pfarrer wusste und tat eine Menge. Er hatte eine Sonntagsschule eingerichtet, in der er vorlas, musizierte und Lesen und Musizieren unterrichtete. Er selbst las viel und gab gern weiter, war ein geborener Pädagoge, heißt es. Und sehr gesellig, er unterhielt sich gern. Die Schüler sollen freiwillig zu ihm gekommen sein. Manchmal gab es Süßigkeiten oder Gebäck, denn der Pfarrer stellte auch dieses selbst her. Außerdem konnte er Möbel restaurieren, Vögel ausstopfen, sogar ein Radio hatte er selbst gebaut. Das durfte man bei ihm hören; er besaß auch ein Grammophon mit großem Trichter – daraus tönte Musik. Welche Musik spielte er seinen Gästen vor? Leider sind keine seiner Schellackplatten erhalten.

1942, zwei Jahre vor dem Tod Montserrats, kam im angrenzenden Nachbarhaus bei der Familie Catany der einzige Sohn Antonio zur Welt. Als Kind liebte er es, die Familienfotos zu betrachten. Ein Foto von der Großmutter gefiel ihm besonders: Tomàs Montserrat, der Pfarrer von nebenan, hatte es gemacht.

Auch Toni Catany, der zunächst in Barcelona Chemie studierte, packte früh die Leidenschaft für die Fotografie. Oft besuchte er als Student die Mutter in Llucmajor. Und begann im Nachbarhaus nach Fotos von Tomàs Montserrat zu forschen, denn dessen Aufnahme seiner Großmutter hatte er immer noch im Gedächtnis. In einem Lagerraum im Nachbarhaus fand er unter dem Getreidevorrat noch rund 150 belichtete Glasplatten, teils beschädigt, teils gut erhalten. Von der Fotoausrüstung und der Studio-Ausstattung war leider nichts mehr vorhanden.

Der Pfarrer und sein Fotostudio

Der Pfarrer und sein Fotostudio Fundació Toni Catany

Abzüge im Originalformat

Toni Catany, der zu einem bekannten Fotografen werden sollte, stellte von den besterhaltenen Platten neue Abzüge im Originalformat her und fasste eine Auswahl dieser Fotos in einem Katalog zusammen: „Tomàs Monserrat – retratista d’un poble“, der erst 1982, fast 40 Jahre nach dem Tod Montserrats, erschien und bis heute das einzige Dokument dieses fotografischen Nachlasses ist. Die einzige Ausstellung dieser Porträtfotos organisierte Catany lange zuvor, 1965, im Rahmen der alljährlichen fires, dem lokalen Markt-Fest, im Kloster des Ortes, und so mancher konnte seine Familie dort wiederentdecken, hatte vielleicht sogar eines dieser Porträtfotos bei sich zu Hause.

Ein Glücksfall für die Fotos von Tomàs Montserrat; denn was wäre mit seinem Nachlass passiert, wäre im Nachbarhaus ein ganz „normaler“ Junge geboren worden, der wie alle auf den Feldern arbeitete oder im Geschäft der Familie?

Heute gehören die fotografischen Platten des Pfarrers Montserrat zum Nachlass Toni Catanys, der 2013 starb, aber noch kurz vorher eine Stiftung einrichtete mit dem Ziel, in seinem Heimatort eine internationale Foto-Akademie einzurichten. Dazu sollte sein Geburtshaus dienen; das Nachbarhaus der Familie Monserrat kaufte die Gemeinde hinzu. Und so sind die beiden Nachbarn, die sich nicht kennenlernen konnten, in ihrer gemeinsamen Leidenschaft – der Fotografie – dort vereint.

PS: Die Eröffnung der „Internationalen Akademie für Fotografie Toni Catany“ in Llucmajor ist für Oktober 2022 geplant. Dann werden auch die Porträtfotos von Montserrat wieder der Öffentlichkeit zugänglich sein.

Über das Buch "Das Lächeln von Llucmajor"

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Wie in dem hier abgedruckten Text erzählt die Autorin Sabine Belz in ihrem Buch „Das Lächeln von Llucmajor“ (Engelsdorfer Verlag, 11 Euro) von ihren Entdeckungen hinter zunächst verschlossenen Türen auf Mallorca. Die pensionierte Leiterin diverser Goethe-Institute lebt seit knapp sechs Jahren gemeinsam mit ihrem Mann in einem renovierten Stadthaus in Llucmajor. Belz ist von Natur aus neugierig, interessiert sich für ihre Mitmenschen und die Geschichte und die Kultur ihrer Umgebung. Besondere Einblicke in die mallorquinische Gesellschaft und ihre Gepflogenheiten bekommt sie auch dank der Freundschaft zu ihrer Nachbarin, der Ur-Mallorquinerin Magdalena Suau.