Wer wissen möchte, wie die Priesterin Nuredduna ausgesehen haben könnte, der muss sich an den Paseo Marítimo in Palma begeben. Dort, gegenüber des Kongresszentrums auf Höhe eines Parkplatzes, steht die Bronzeskulptur einer jungen Frau. Der Überlieferung nach lebte Nuredduna um 1.100 vor Christus in dem talaiotischen Dorf Ses Païsses nahe Artà und soll schöner gewesen sein als eine Göttin. Als ein Schiff mit Griechen nahe der Siedlung ankam, wollten die Bewohner die Besatzung den Göttern als Opfergabe darbringen. Nuredduna verliebte sich in einen der Männer und brachte ihn unter einem Vorwand in eine Höhle. Man ahnt es bereits: Die Geschichte endete im Desaster. Der Grieche entkam, eilte zu seinem Boot und holte die übrigen Männer an Land, die das Dorf angriffen. Nuredduna wurde von ihrer eigenen Dorfgemeinschaft als Verräterin gesteinigt.

Ganz so blutig ist die Geschichte um die nach der bemitleidenswerten jungen Frau benannten Straße, dem Carrer Nuredduna, in Palma nicht. Aber auch sie könnte in einem veritablen Desaster enden.

Dass etwas im Argen liegt in Palmas Einwandererviertel Pere Garau, ist schnell auszumachen. Um die Gefühlslage von Bewohnern und Geschäftstreibenden zu ergründen, muss man nur mit María Jesús Pérez sprechen. Sie ist Besitzerin eines Schinkenstandes im Markt von Pere Garau - und leidenschaftliche Fußgängerin, wie sie über ihre Theke erregt berichtet. „Und trotzdem bin ich der Meinung, dass die Verkehrsberuhigung des Carrer Nuredduna ein großer Fehler für das gesamte Viertel ist." Sie sei immer für Fußgängerzonen zu haben, aber nicht auf den knapp 300 Metern von den Innenstadt-Avenidas bis zur sogenannten Plaza de las Columnas. „Wenn wir die Einfahrt nach Pere Garau zu einer Fußgängerzone machen, dann kommt doch niemand mehr zu uns", befürchtet Pérez.

Auch Sebastià Sabater, der einen Olivenstand am Eingang des Marktes betreibt, kann sich mit dem Vorhaben der Stadtverwaltung nicht anfreunden. „Es fallen viele Parkplätze weg - und das in einem Bereich, der ohnehin sehr dicht besiedelt ist und keinerlei öffentliche Parkgelegenheiten bietet." Würde in Pere Garau eine Tiefgarage entstehen oder ein Parkhaus, sähe die Sache ganz anders aus.

Das Projekt der Stadt

Worum geht es bei der ganzen Aufregung? Der Plan der Linksregierung in Palmas Rathaus sieht vor, den 280 Meter langen Carrer Nuredduna zu einem Idyll aus breiten Wegen für Fußgänger, schattenspendenden Bäumen, kleinen Brunnen und Kinderspielplätzen zu machen. Vorgesehen ist eine Investition von rund 2,6 Millionen Euro, der Autoverkehr soll komplett aus der Straße verbannt werden. Dazu würde unter anderem der Tunnel unter den Avenidas gesperrt, der in den Carrer Nuredduna mündet und eine wichtige Zufahrt nach Pere Garau darstellt. Insgesamt entstehen laut Stadtverwaltung 700 Quadratmeter Grünzone, der Baumbestand soll in dem Bereich um 25 Prozent wachsen.

Das Projekt Nuredduna gehört wie auch der Carrer Fàbrica oder der Carrer Blanquerna zu den sogenannten ejes cívicos, die die Stadt Palma vom Zentrum aus sternförmig in die angrenzenden Stadtviertel anlegen lässt. Sowohl im Carrer Fàbrica als auch im Carrer Blanquerna haben Stadt und Anwohner mit der Verkehrsberuhigung gute Erfahrungen gemacht. Andere ejes cívicos wie etwa der Carrer Arxiduc Lluís Salvador sind nicht zur Fußgängerzone geworden. Hier wurden nur die Bürgersteige verbreitert, die Müllcontainer unter die Erde verlegt und kleinere Arbeiten ausgeführt.

Derzeit ist der Auftrag für den Carrer Nuredduna ausgeschrieben, Baubeginn soll im September sein. Ein Werbevideo des Rathauses zeigt einen innerstädtischen Garten Eden mit Vogelgezwitscher. Die zuständige Stadträtin Angélica Pastor schwärmt: „Wir haben uns das als Stadt verdient. Und es war überfällig in einer Umgebung wie Pere Garau."

Wenn Àngels Fermoselle die Stadträtin Pastor derart reden hört, dann schwillt ihr der Kamm. Fermoselle ist Inhaberin eines kleinen Heilkräuterladens um die Ecke des Marktes von Pere Garau, gehört der Denkmalschutzvereinigung ARCA an und ist eine der Hauptfürsprecherinnen für ein anderes Projekt Nuredduna. Sie empfängt die MZ in ihrem Geschäft. Der Laden ist vollgestellt mit Kräuterprodukten, Duftstäbchen und Körperlotionen. Hinter der Theke liegen stapelweise Zeitungen, viele mit Ausrissen über die Kampagne in Pere Garau. Zeit zum Sammeln hatte sie. Das Projekt wurde im Juni 2020 vorgestellt, und seitdem kämpft Fermoselle mit zahlreichen Menschen aus dem Viertel gegen die Fußgängerzone im Carrer Nuredduna.

Gemeinsam mit der Stadtteilinitiative Flipau amb Pere Garau und der Vereinigung der Markthändler des Viertels hat ARCA die Initiative „Pere Garau - molt més que Nuredduna" (Pere Garau - viel mehr als nur Nuredduna) ins Leben gerufen. Der Name ist Programm: Die Initiative kritisiert, dass die Stadt mehrere Millionen Euro in die Hand nimmt, um ein nicht einmal 300 Meter langes Stück Straße zu einer „Luxusstraße" (Fermoselle) zu verwandeln, während der Rest des Viertels in die Röhre schaut. „Warum gibt die Stadt so viel Geld aus, um eine einzige Straße in der reichsten Ecke des Viertels aufzuhübschen?", fragt sie.

Die Empörung in ihrer Stimme klingt weiterhin echt, obwohl sie diesen Satz schon häufig gesagt hat. Die Ungleichbehandlung des Stadtteils ist nur ein Kritikpunkt, aber in den Augen der Gegner ein zentraler. So hat die Initiative eine Grafik auf Basis von Daten des spanischen Statistik-Instituts INE von 2017 mit dem Pro-Kopf-Einkommen von Pere Garau angefertigt. Daraus geht hervor, dass die innenstadtnahen Bereiche des Viertels rund um den Carrer Nuredduna diejenigen mit dem höchsten Einkommen sind.

Stadt gegen Bürger

Es geht in dieser Auseinandersetzung um weit mehr als nur die Frage Fußgängerzone Nuredduna ja oder nein. Das Projekt besitzt eine politische Dimension. Da geht es beispielsweise darum, dass eine linke Regierung ein Projekt durchzieht, ohne die Anwohner dazu zu befragen („Es gab keinerlei Bürgerbeteiligung, das Projekt wurde von der Stadt quasi verordnet", kritisiert Fermoselle), oder darum, dass eine Stadtverschönerung nur am Rande eines lange vernachlässigten Arbeiterviertels endet. Ausgerechnet die konservative Volkspartei PP nutzt das aus, um sich auf die Seite der Bewohner im Viertel zu schlagen. Und da geht es um Formfehler, wie etwa, dass die Investitionssumme in der Ausschreibung nicht korrekt aufgeführt war. Dieser Fehler wurde immerhin inzwischen korrigiert.

Da geht es auch um einen Einspruch von „Pere Garau - molt més que Nuredduna" im Februar. Die Frist der Stadt, darauf zu antworten, verstrich im März - ohne Rückmeldung. Für die Initiatoren des Einspruchs bedeutet das: Das Projekt ist erst einmal gestoppt. Bei der Stadt Palma sieht man keinen Grund, etwas zu unternehmen. „Das Projekt läuft normal weiter", erklärt eine Sprecherin der Stadt. Es wird deutlich: Stadt und Kritiker stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Die Stadtverwaltung hat - möglicherweise, um Druck aus der Angelegenheit zu nehmen - in den vergangenen Monaten eilig mehrere Investitionen in Pere Garau angekündigt und führt sie teilweise bereits aus. Dazu gehört eine Neuasphaltierung des Carrer Arxiduc Aspàreg, die Fortführung des Marktplatzes von Pere Garau in Richtung Son Gotleu. 700.000 Euro wurden dafür lockergemacht. Zudem wurde auch der Marktplatz von Pere Garau ein wenig aufgehübscht, ferner sollen ein dringend benötigtes neues Gesundheitszentrum sowie eine Bibliothek nun endlich Wirklichkeit werden. Und schließlich sollen auch Millionen Euro für das angrenzende, noch ärmere Stadtviertel Son Gotleu beantragt werden. „Es ist kein Zufall, dass nach über zehn Jahren ohne Investitionen in das Viertel nun alles gleichzeitig passiert", sagt Fermoselle.

Angst vor Gentrifizierung

Eine drohende Gentrifizierung und die damit verbundenen Folgen im Carrer Nuredduna und den angrenzenden Straßen, vor allem die Verteuerung des Wohnraums, sind die Horrorvorstellung für Fermoselle und wohl viele der Bewohner von Pere Garau, die eher selten zu den Großverdienern gehören. Unter diesem Gesichtspunkt ohnehin von vielen Bewohnern des Viertels auch kritisch gesehen wird das Vier-Sterne-Hotel Nou Baleares, das seit einem Jahr an der Plaza de las Columnas wie aus einer anderen Welt wirkt.

Der Direktor des Nou Baleares, Yan Garayalde, sieht das naturgemäß anders. Er erzählt der MZ, dass sich das Haus gut in den Kiez integriert hat und dass viele Bewohner von Pere Garau in das Restaurant Boira im Erdgeschoss kommen. „Viele von ihnen nennen unser Haus die Oase von Pere Garau", berichtet er stolz.

Dem Projekt Nuredduna steht Garayalde uneingeschränkt positiv gegenüber. „Wenn es nach uns ginge, wäre die Fußgängerzone längst Wirklichkeit." Garayalde setzt nicht ganz uneigennützig auf eine Aufwertung der gesamten Gegend. Schließlich locke das Touristen an. Ihn ficht es nicht an, dass mit der Realisierung des Projekts möglicherweise bald Konkurrenz am Platz entsteht. Das Haus Nuredduna 24 steht derzeit komplett zum Verkauf. Im Viertel wird bereits gemunkelt, dass hier ein weiteres Hotel unterkommen könnte. Dass für Mieter eine mögliche Aufwertung des Viertels negative Folgen haben könnte, bestreitet Garayalde nicht. „Dafür gibt es zahlreiche Eigentümer, die bei der Vermietung oder dem Verkauf ihrer Wohnungen mehr Gewinn herausschlagen können. Die Initiative der Stadt wird auf jeden Fall mehr Nutzen als Schaden bringen. Jede Investition in Infrastruktur ist positiv."

Diese Ansicht teilen die Kritiker um Àngels Fermoselle keineswegs. Sie werfen der Stadt vor, unter anderem den eigenen Raumordnungsplan in den Wind zu schießen. So war das jetzige Projekt Nuredduna mit der Fertigstellung des „Plan General de Ordenación Urbana" noch Teil eines größeren Vorhabens, des „eje cívico Nuredduna-Francesc Manuel de los Herreros-Arquebisbe Aspàreg-Indalecio Prieto", das bereits 2014 vorgestellt und eigentlich bis nach Son Gotleu verlängert werden sollte. Etwas, das dem Brennpunktviertel ganz im Osten der Stadt zugutekommen würde. „Die Stadt hat nun mal leider nur den Etat, den sie hat", erklärt die Sprecherin der Stadt lediglich. Immerhin bemüht sich die Stadtverwaltung gerade um EU-Gelder in Höhe von 23 Millionen Euro, von denen ein beträchtlicher Teil in die Verbesserung der Wohnsituation in Son Gotleu fließen soll.

Die Hoffnung auf ein Einlenken der Stadt hat Fermoselle trotzdem noch lange nicht aufgegeben. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir gewinnen werden, die Politiker sich das Ganze noch einmal anders überlegen und es endlich einen Dialog gibt." Wer jedoch Stadträtin Angélica Pastor reden hört, der zweifelt an den Worten von Fermoselle. „Wir haben uns mit diesem Projekt zur Wahl gestellt, wir haben die Wahl gewonnen, wir regieren - und wenn das Projekt fertiggestellt ist, wird man sagen können, ob es besser für die Stadt ist oder nicht", lässt Pastor wissen.

Klingt nach „Augen zu und durch" - ähnlich wie bei der echten Nuredduna vor rund 3.000 Jahren. Die Gefahr ihrer Liebe zu dem Griechen dürfte ihr klar gewesen sein. Trotzdem konnte sie die Finger nicht von ihm lassen.