Wie aus dem Misstrauensvotum gegen Pedro Sánchez eine denkwürdige Debatte wurde

Vox-Kandidat Ramón Tamames verlieh der Debatte im spanischen Parlament eine historische Dimension

Die Kandidatur von Tamames (Mi.) war Anlass für ein Duell Sánchez-Abascal.  | GRAFIK: FERNANDO MONTECRUZ

Die Kandidatur von Tamames (Mi.) war Anlass für ein Duell Sánchez-Abascal. | GRAFIK: FERNANDO MONTECRUZ / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Sechs Misstrauensverfahren gab es bislang im spanischen Parlament seit Wiedereinführung der Demokratie 1978. Ministerpräsident Pedro Sánchez war an der Hälfte davon beteiligt und hat alle drei gewonnen: Im Sommer 2018 gelang es dem Sozialisten überraschend, den Konservativen Mariano Rajoy wegen der Korruptionsskandale der Volkspartei (PP) an der Macht abzulösen. Im Oktober 2020 überstand Sánchez problemlos das Misstrauensvotum der rechtsextremen Vox, dem sich keine andere Partei anschloss. Und auch der zweite Versuch der Rechten, über das verfassungsrechtliche Instrument die Regierung zu stürzen misslang am Mittwoch (22.3.) wie schon vorher feststand. Mit Ja stimmte nur Vox, die oppositionelle Volkspartei enthielt sich.

Das Misstrauensvotum dieser Woche war jedoch eigenartig. Anders als vor zweieinhalb Jahren präsentierte sich nicht der Vorsitzende von Vox, Santiago Abascal, als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Stattdessen stellte die Partei den 89-jährigen renommierten Wirtschaftswissenschaftler Ramón Tamames auf, der früher einmal selbst Abgeordneter im Unterhaus war. Diese Persönlichkeit verlieh der zweitägigen Debatte im Congreso de los Diputados eine historische Dimension. Tamames wollte mit seiner langen Erfahrung seit dem Widerstand gegen die Franco-Diktatur nach eigenen Worte Ruhe und Eintracht in die so stark polarisierte spanische Politik bringen. Doch die langen Wortgefechte im Parlament unterstrichen einmal mehr, dass die Fronten zwischen dem linken und dem rechten Lager unversöhnlich verhärtet sind.

Damals, im Gefängnis

Tamames erinnerte zunächst an 1956, als er und andere Oppositionelle der Diktatur im Gefängnis saßen. Der Volkswirt war Mitglied der Kommunistischen Partei, die mehr als die Sozialisten der PSOE den Widerstand in Spanien anführte. In der berüchtigten Haftanstalt von Carabanchel in Madrid erkannten er und seine Mitstreiter damals „die Notwendigkeit einer nationalen Versöhnung“ nach den Gräueltaten des Bürgerkriegs, so der Kandidat, der aus gesundheitlichen Gründen nicht vom Rednerpult sprach, sondern von einem Abgeordnetensitz neben Vox-Chef Abascal.

Dabei muss Tamames schnell selbst erkannt haben, dass er mit seiner Absicht, zu einer neuen Versöhnung beizutragen, auf taube Ohren stieß. Denn bevor der Kandidat das Wort ergriff, hatten sich Sánchez und Abascal einen knallharten Schlagabtausch geliefert. Der Vox-Vorsitzende durfte als Initiator des Misstrauensverfahren zuerst reden, der Ministerpräsident hatte das Recht zu antworten. Abascal schimpfte einmal mehr über „eine Regierung, die sich den Feinden Spaniens, einem totalitären Delirium und der Plünderung der Nation ausgeliefert hat“. Sánchez erwiderte, dass Vox „nur Hass und Frustration verbreitet“. Von nationaler Versöhnung keine Spur.

Im Gegensatz zu den gewohnt harten Attacken auf Abascal pflegte der Regierungschef im Wortduell mit Tamames einen zurückhaltenden, weitgehend respektvollen Ton. Vox hatte vorsorglich um Respekt für Tamames gebeten, nachdem dieser wegen seines hohen Alters in einigen Medien belächelt worden war. Damit wollte die Rechte offensichtlich bei der älteren Wählerschaft punkten. Doch Sánchez blieb in der Form höflich, ohne der inhaltlichen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen.

„Ich glaube, das hier war nicht die beste Idee, die Sie in Ihrem Leben gehabt haben, Señor Tamames. Leider tragen Sie dazu bei, das Image von Vox reinzuwaschen“, kritisierte der Sozialist. Der Herausforderer lieferte dem Premier einige Steilvorlagen. So bemühte er den vermeintlichen Zusammenhang zwischen Immigration und Kriminalität, einschließlich einem angeblichen Anstieg der Zahl Vergewaltigungen. Die Gleichstellungpolitik der Regierung schob er „ideologischen“ Motiven zu. Tamames lobte die private Gesundheitsversorgung und forderte eine Reform des Wahlrechts, damit die Nationalisten in Katalonien oder dem Baskenland nicht mehr so stark im Parlament vertreten seien. Tamames ging jedoch nicht so weit wie Vox, die ein Verbot der separatistischen Parteien fordert.

Historische Lehren

Mit den häufigen Ausflügen in die jüngere Geschichte Spaniens und den historischen Lehren machte der 89-Jährige sein erklärtes Ziel der nationalen Versöhnung selbst zunichte. Ganz im Sinne von Vox, und zum guten Teil auch der PP, wetterte Tamames gegen das Gesetz zur Demokratischen Erinnerung und etwa die Exhumierung Francos und dessen Verlegung aus dem monumentalen Valle de los Caídos, dem Tal der Gefallenen. Der Autor vieler Bücher über Geschichte und Wirtschaft vertrat im Parlament die These, dass der Bürgerkrieg auch von den linken Politikern der Spanischen Republik verursacht worden sei und statt mit Francos Staatsstreich 1936 schon zwei Jahre zuvor begonnen habe. „Auf beiden Seiten gab es Gräueltaten, die Republik war nicht so engelhaft wie immer gesagt wird“, sagte Tamames. Daher entspreche die Demokratische Erinnerung nicht der Wahrheit.

Die Bilanz von Sánchez

Sánchez konzentrierte den Großteil seiner 80-minütigen Replik auf die Wirtschaftspolitik. Er stellte die sozialen Errungenschaften seiner Koalitionsregierung mit dem Linksbündnis Unidas Podemos wie der massiven Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, die Anhebung der Renten oder der Arbeitsmarktreform den „neoliberalen“ Rezepten der Rechten gegenüber. Dabei ging es dem Ministerpräsidenten weniger um Vox, als um die PP, die zuvor bereits ihre Enthaltung bei der Abstimmung angekündigt hatte.

Sánchez will vor den Regional- und Kommunalwahlen im Mai und den spanienweiten Wahlen Ende des Jahres die Sozialpolitik der Linksregierung einem drohenden sozialen Kahlschlag und den Privatisierungen der Konservativen gegenüberstellen. „Das wahre Ziel dieses Misstrauensvotums ist die Zerstörung der Politik zum Schutz der Mittelschicht, die diese Regierung gemacht hat. Unser Projekt für das Land steht im Gegensatz zum absoluten Nichts, das Sie anbieten, zusammen mit Ihrem Partner, der sich enthält“, erklärte Sánchez an die Adresse von Abascal und nicht Tamames. Mit einer neuen nationalen Versöhnung dürfte es zumindest bis zu den Wahlen nichts werden.

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