Explosion der Gewalt in Spanien: Wie der Streit um die Amnestie eskaliert

In den vergangenen Tagen kam es zu Ausschreitungen. Die Parteien reagieren mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Durchbruch bei Verhandlungen mit Junts per Catalunya

Bei den Ausschreitungen vor dem Parteisitz der Sozialisten in Madrid flogen Steine. Auch Franco-Symbole und Nazi-Parolen waren präsent.  | FOTO: DANIEL GONZÁLEZ/EFE

Bei den Ausschreitungen vor dem Parteisitz der Sozialisten in Madrid flogen Steine. Auch Franco-Symbole und Nazi-Parolen waren präsent. | FOTO: DANIEL GONZÁLEZ/EFE / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Argüelles ist ein ruhiges, sehr bürgerliches Viertel am schönen Parque del Oeste in Madrid. In den vergangenen Tagen war die Gegend rund um den Hauptsitz der Sozialisten (PSOE) auf der Calle Ferraz Schauplatz von Massenausschreitungen radikaler Demonstranten und Unruhestifter und Auseinandersetzungen mit den spanischen Sicherheitskräften. Die Proteste Tausender gegen die geplante Amnestie für katalanische Separatisten schlugen in Randale um, bei der die Polizisten mit Steinen und anderen Wurfgeschossen angegriffen wurden. Zwar handelte es sich bei den Gewaltbereiten um eine Minderheit. Doch waren Franco-Symbole und Nazi-Parolen sehr präsent. Premier Pedro Sánchez wurde als „Hurensohn“ und „Diktator“ beschimpft.

Weitgehende Amnestie

Auslöser für die Proteste ist das Amnestiegesetz, das die Sozialisten derzeit mit den katalanischen Separatisten aushandeln. Die PSOE ist sich mit der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) einig geworden, dass es auch Personen einschließt, die wegen gewalttätiger Aktionen während und nach dem Abspaltungsversuch 2017 vor Gericht standen. Das gilt etwa für die Aktivisten der Bewegung Tsunami Democràtic oder den CDR, die mit Autobahnblockaden das öffentliche Leben in Katalonien zum Stillstand bringen wollten und in Barcelona Straßenschlachten anzettelten. Bei den Verhandlungen mit der zweiten separatistischen Partei – Junts –, deren Stimmen ebenfalls für die Wiederwahl von Sánchez im Parlament erforderlich sind, wurde am Donnerstagmorgen (9.11.) der Durchbruch verkündet.

Angesichts der Gewaltszenen auf den Straßen der spanischen Hauptstadt reagierten die Parteien nach gewohntem Schema mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die PSOE warf der konservativen Volkspartei (PP) vor, die Krawalle nicht entschieden genug zu verurteilen. In der Tat fielen die Reaktionen nach der ersten Nacht der Gewalt am Montag (6.11.) sehr verhalten aus. Nachdem die Ausschreitungen am Dienstag eskaliert waren, wiesen PP-Politiker die Gewalt unzweideutig zurück. Doch der Oppositionsführer Alberto Núñez Feijóo konnte sich auch dann nicht einen Seitenhieb auf Sánchez verkneifen. „Wenn man eine Amnestie für Gewalt anstrebt, geht man nicht gerade mit gutem Beispiel voran“, sagte der PP-Vorsitzende am Mittwoch (8.11.).

Alberto Núñez Feijóo am Dienstag (26.9.) im Parlament.

Alberto Núñez Feijóo am Dienstag (26.9.) im Parlament. / A. Perez Meca / Europa Press

Gegenseitige Vorwürfe

Die Linksregierung glaubt dagegen, dass die Rechten gezielt die Stimmung aufheizen, um eine Einigung für die Wiederwahl zu torpedieren. Vor Tagen gab der frühere Premier José María Aznar, der weiterhin großen Einfluss in der PP und in der konservativen Wählerschaft genießt, die Losung aus. „Ich sage es mit aller Deutlichkeit: Der Kandidat Sánchez ist eine Gefahr für die verfassungsrechtliche Demokratie in Spanien“, so der Ex-Regierungschef (1996–2004). „Deswegen müssen wir handeln. Jeder soll tun, was er tun kann.“

Die Proteste vor der PSOE-Zentrale in Argüelles wurden jedoch von der rechtsradikalen Vox einberufen, ohne offizielle Genehmigung. Der Vorsitzende der Partei, Santiago Abascal, gönnte sich am Montagabend höchstpersönlich ein Bad in der Menge, verschwand aber, bevor die Krawalle losgingen. Tags darauf forderte Abascal die Polizisten auf, „illegale Befehle“ ihrer Vorgesetzten zu verweigern. Vox ist der Koalitionspartner der PP in Hunderten von Rathäusern und mehreren Regionen, darunter auch auf den Balearen.

Die Mobilmachung des rechten Lagers gegen die Amnestie beschränkt sich aber nicht auf die Parteien und den Protest auf der Straße. Die konservative Mehrheit im Selbstverwaltungsorgan der Justiz, dem CGPJ, verabschiedete eine Erklärung gegen das geplante Gesetz, obwohl davon offiziell noch gar nichts bekannt ist. Dennoch sind sich die Juristen, die das Manifest unterschrieben, einig, dass die Amnestie eine „Entwürdigung, wenn nicht gar Abschaffung des Rechtsstaates in Spanien“ bedeute. Auch andere konservative Juristenvereine kritisierten öffentlich die Pläne.

Terrorismus-Verdacht?

Mitten in die Diskussion platzte die Nachricht, dass Manuel García Castellón, Richter am Spanischen Gerichtshof, bei seinen Ermittlungen den früheren Premier Kataloniens, Carles Puigdemont, und Marta Rovira, ERC-Geschäftsführerin, wegen Verdachts des Terrorismus ins Visier genommen hat. Der Magistrat, dem eine ideologische Nähe zur PP nachgesagt wird, begründet seinen Vorwurf des Terrorismus auf den Fall eines Franzosen, der wegen der Straßenblockaden in Barcelona 2019 zu Fuß zum Flughafen laufen musste und im Terminal an einem Herzinfarkt starb. Andere Juristen bezweifeln, ob man von einem Terror-Opfer sprechen kann. García Castellón tat seiner Glaubwürdigkeit in der Sache keinen Gefallen mit Bemerkungen auf einer Veranstaltung, die er als „Bürger“ äußerte. „Die Amnestie ist in der Verfassung nicht verboten, aber in der Verfassung steht auch nichts davon, dass die Sklaverei verboten ist.“

Derweil verhandeln die Sozialisten weiter über das Gesetz, und zwar in Brüssel, wo Puigdemont lebt, seit er sich 2017 dem Zugriff der spanischen Justiz entzog. Im Regierungslager gibt man sich weiter optimistisch. Das Abkommen muss vor dem 27. November stehen, sonst käme es automatisch zu Neuwahlen am 14. Januar. Die Proteste gehen weiter. Für Sonntag (12.11.) hat die PP in den 52 Provinzhauptstädten zu Demonstrationen aufgerufen.

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