Wenn Vandana Shiva ihre Standpunkte darlegt, kann man förmlich spüren, wie der scharfe Verstand arbeitet. Die 69-jährige indische Quantenphysikerin ist Trägerin des „Alternativen Nobelpreises“ Right Livelihood Award. 1991 gründete sie die Umweltorganisation Navdanya (Neun Samen), mit der sie in Indien Saatenbanken aufgebaut und alte Sorten gerettet hat. Zwei ihrer Lieblingsgegner sind Bill Gates und Konzerne wie Monsanto; einige ihrer Positionen gelten durchaus als kontrovers. Auf Mallorca war Shiva zum Textilkunst-Festival XTant eingeladen, unter anderem sprach sie dort über ein „neues Narrativ“. Die MZ traf sie in Palma zum Interview.

Ihr Aktivismus betrifft sehr viele Themengebiete. Ihr Vortrag auf Mallorca hieß „A New Narrative“. Wo haben Sie den Schwerpunkt gesetzt?

Mein Aktivismus ist stets von der Suche nach Wahrheit geleitet. Das ist meine Wissenschaft. Nur: Die Welt wird in so viele Bereiche unterteilt, dass die Leute denken, jeder Bereich erfordere eine eigene Bewegung. Doch so ist es nicht. Die Bewegungen für Klimaschutz, Biodiversität, Ernährung und Frauenrechte sind dasselbe. Worüber ich in „A New Narrative“ sprach, ist das, was ich in 50 Jahren gelernt habe: Dass alles miteinander verbunden ist. Wir müssen uns von einem Zeitalter der Ausbeutung zu einem neuen Bewusstsein für die lebende Erde bewegen, ihre Gesetze respektieren und in Frieden mit ihr leben. Aber dieselbe Landwirtschaft, die angesichts des Klimawandels die richtige ist, bringt auch die Artenvielfalt zurück, beschert uns Gesundheit, schafft Lebensgrundlagen und erhält unsere Kultur. Letztlich geht es also darum, das Leben und seine Vielfalt zu feiern und zu verteidigen.

Beim Textilkunst-Festival „XTant“ geht es um den Erhalt von traditionellem Handwerk. Welche Bedeutung hat dieses Thema für Sie?

Nun, ich begann damit, altes Saatgut zu schützen, weil es zum Objekt von Genmanipulation und Patentierung von Pflanzen wurde und Konzerne wie Monsanto alle Pflanzensamen dieser Welt besitzen wollten. Die Rettung von Saatgut-Erbe und Textil-Erbe ist ein Kontinuum. Ein Beispiel dafür ist die BT-Baumwolle (gentechnisch veränderte Baumwolle, Anm. d. Red.) von Monsanto in Indien. Sie hat den lokalen Textilmarkt zerstört. Monsanto schuf ein zentralisiertes System, um die Pflanzensamen zu vertreiben, und die Baumwolle wird nach China exportiert. Dabei ist Indien das Land, das seine Unabhängigkeit durch das Weben und Spinnen von Baumwolle erlangt hat (das Spinnrad wurde zum Symbol des gewaltlosen Widerstandes von Mahatma Gandhi gegen die Kolonialmacht England, Anm. d. Red). Für uns ist das die Faser der Freiheit.

Sie schützen also nicht nur Saatgut von essbaren Pflanzen, sondern auch von Baumwolle.

Ja, und wir haben Bauern dabei unterstützt, Bio-Baumwolle anzubauen. Sie verdienen doppelt so viel wie mit BT-Baumwolle. Die Geschichte der Landwirtschaft, der Lebensmittel und der Kleidung ist die gleiche: die der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Zerstörung von Lebensgrundlagen, Schönheit und Kultur. Für mich bedeutet regenerative Landwirtschaft, die Biodiversität zurückzubringen, aber auch die handwerkliche Arbeit und das Wissen der Menschen.

Eine verbreitete Ansicht ist, dass ökologische Landwirtschaft nicht die gesamte Weltbevölkerung ernähren könne. Was sagen Sie dazu?

Das ist ein absoluter Mythos. Ich habe 48 Jahre meines Lebens damit verbracht, konventionelle Landwirtschaft zu studieren und ökologische Landwirtschaft zu praktizieren. Und ich kann Ihnen sagen: Der Grund dafür, dass so viele Menschen hungern und krank sind, ist, dass wir die globale Landwirtschaft industrialisiert haben. 75 Prozent der chronischen Krankheiten kommen von industriell erzeugten und verarbeiteten Lebensmitteln. Etwas, das Hunger und Krankheit verursacht hat, nennt sich Lebensmittelsystem? Ökologische Landwirtschaft ist der einzige Weg, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Warum? Vor allem weil sie die Böden und die Artenvielfalt regeneriert. Und die sind das Kapital der Landwirtschaft. Zweitens: Wenn man den Nährwert der Pflanzen und nicht das Gewicht misst, produziert die ökologische Landwirtschaft mehr. Je höher die Biodiversität im Boden, desto nährstoffreicher wird das Essen. Ich habe ein Maß definiert, das sich „biodiversitätsbasierte Produktivität“ nennt, weil eine Ware, die eine Lieferkette verlässt, nicht das geeignete Maß für einen produktiven Betrieb sein kann. Die Farm ist der Boden, der Bauer, das Essen, die Qualität. Wir könnten die Bevölkerung Indiens zweimal satt bekommen und mit allen Nährstoffen versorgen, wenn wir ökologisch produzieren würden.

Im Moment erscheint es unmöglich, über Lebensmittelsicherheit zu sprechen, ohne an die wegbrechenden Getreideexporte und die Preisexplosion durch den Krieg in der Ukraine zu denken. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Zunächst stimmt es nicht, dass die Ukraine kein Getreide mehr exportiert hätte. Sie hat dieses Jahr mehr Weizen exportiert als vergangenes Jahr, 46 Millionen Tonnen. Ja, es gibt eine Krise. Aber sie ist nicht vom Krieg in der Ukraine verursacht, sondern von der Gier der Großkonzerne. Es fängt damit an, Lebensmittel auf eine Ware zu reduzieren und den Regeln des Handels zu unterwerfen. Lebensmittelunsicherheit gibt es seit 30 Jahren. 80 Prozent der Länder in Afrika sind heute abhängig von Importen – und in den meisten dieser Länder wurde Weizen zuvor gar nicht verzehrt. In Äthiopien und Eritrea etwa wird traditionell Hirse gegessen. Und doch drängt man ihnen subventionierte, globalisierte Pflanzen auf. Wenn die Versorgungsketten unterbrochen werden, sei es durch Covid oder durch einen Krieg, entsteht Leid. Der Krieg verschärft eine bestehende Krise. Aber nicht er ist der Grund, sondern der absichtliche Aufbau von Importabhängigkeit und die Art, wie wir Nahrung anbauen und damit handeln. Ernährungssouveränität wurde zerstört, um Lebensmittelmärkte zu schaffen. Hinzu kommt: 2008 war die Weltfinanzkrise. Daraufhin stiegen viele in das Geschäft mit Lebensmittel-Spekulation ein. Dieses Jahr wurden 75 Prozent der Käufe von Finanzspekulanten getätigt, nicht von Menschen oder Ländern. Steigende Preise entstehen durch Spekulation.

Die Lösung wäre also Ernährungssouveränität?

Ja, jede Region, jedes Land sollte eine gesicherte Lebensmittelversorgung haben, die auch angesichts des Klimawandels Bestand hat. Und es sollte Solidarität geben, das gilt auch für die Wirtschaft. Während der Coronavirus-Pandemie gab es sehr viel Solidarität, dadurch haben die Menschen überlebt. In meinem Land wären viele verhungert, wenn nicht Freiwillige Gemeinschaftsküchen betrieben hätten.

Auf Mallorca haben wir durch die Insellage eine besondere Situation. Wäre das in Bezug auf Solidarität und Souveränität ein Vorteil?

Die beiden Knackpunkte bei einer Insel sind: Sie hat sehr klare Grenzen, und deshalb kann sie definitiv ihre Ernährungssouveränität auf eine klarere Art und Weise zurückfordern – weil sie ihre Ökologie kennt und weiß, welche Pflanzen hier wachsen. Die Mallorquiner haben ihre ganz eigene Esskultur. Wenn wir darauf aufbauen, macht es die Dinge einfacher. Aber Mallorca ist nicht nur eine Insel der Einheimischen und Residenten. Die Bürde des Tourismus kreiert ein völlig anderes Nahrungsmittel-Problem: Diese kleine Insel kann eine Million Menschen aushalten, aber nicht mehrere Millionen. Deshalb brauchen wir größere Netzwerke für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion.

Sie würden also nicht die Touristen verbannen?

Ich glaube, wir brauchen mehr Demokratie im Tourismus und müssen entscheiden, welche Art von Tourismus wir wollen. Das betrifft vor allem die Unterkünfte. Denn wie die Massenproduktion von Nahrung und Kleidung hat auch der Massentourismus ein hohes Maß an Verantwortungslosigkeit. Die Urlauber wollen Konsumkultur, ohne Verantwortung oder den Willen, etwas zurückzugeben. Billige Flüge, billiges Essen. Wir müssen aber bewusster essen. Der Preis unserer Nahrung ist trügerisch, weil er nicht alle eigentlichen Kosten beinhaltet. Wir zehren von der Erde, doch wir müssen sie regenerieren. Das sollten wir uns in jedem Bereich des Lebens bewusst machen: Wie esse ich, welche Kleidung trage ich, und wie reise ich, ohne dabei ein Raubtier zu sein? Ein mallorquinischer Freund von mir hat mir gerade ein Buch gegeben, bei dem es um das Reisen als Pilgerreise geht – darum, einen Ort auf eine tiefgründigere Weise zu erleben.

Abgesehen von Gentechnik: Kann Technologie und Wissenschaft Ihrer Ansicht nach zu einem Wandel in der Landwirtschaft beitragen?

Wissenschaft bedeutet ja Wissen. Also waren Frauen, die Landwirtschaft betrieben haben, immer Wissenschaftlerinnen. Und Technologie meint Werkzeuge. Wir Menschen brauchen beides, um auf diesem Planeten zu leben, und beides ist nicht neu. Der Punkt ist, welche Wissenschaft und welche Technik? Chemikalien und synthetische Düngemittel schaden mehr, als dass sie nutzen. Wir müssen uns immer fragen: Brauchen wir das? Was tut es, was genau macht es besser? Welche Auswirkungen hat es? Auf dieser Grundlage sollten wir demokratische Entscheidungen treffen. Und nachhaltige Bodennutzung ist nicht rückständig, sondern Zukunftssicherung.

Sie sind eine Vertreterin des Ökofeminismus. Was bedeutet das genau?

Einfach gesagt heißt es lediglich, die Scheuklappen des kapitalistischen Patriarchats abzulegen, das uns sagt, die Natur sei tot. Aber die Natur lebt. Dieser alte Baum da draußen wächst. (Im Hintergrund hört man eine Kutsche.) Dieses Pferd bewegt sich auf der Straße. Und das Pferd braucht keine fossilen Brennstoffe. Wir nehmen zwar die „Pferdestärke“ als Maßstab, haben aber das Pferd vergessen! Das kapitalistische Patriarchat hat Frauen zudem ihrer Kreativität und ihres Wissens beraubt. Bei den Hexenjagden in Europa starben Millionen von Menschen, vor allem Frauen. Die entstehenden autoritären Kulturen wollten nicht, dass die Menschen wussten, wie man heilt oder wie man Kinder gebärt. Die Natur selbst und die Frauen wurden zum Schweigen gebracht. Der alte Feminismus basierte oft auf der eng gefassten Idee der Befreiung vom Patriarchat: Stärker und dominanter sein, die Karriereleiter hochklettern. Ökofeminismus betont, dass wir alle menschlich sind, und als Frauen nicht weniger wert. Tatsächlich haben wir die menschlichen Werte der Fürsorge besser bewahrt. Und das ist es, was die Welt gerade braucht: weniger Gewalt, mehr Fürsorge. Weniger Gier und Milliardäre, mehr Wohlbefinden für alle. Darin hatten Frauen schon immer die Expertise, weil ihnen dieses Feld überlassen wurde – es wurde als unwichtig erachtet. Ich sage übrigens nicht, dass nur Frauen das können! Wir brauchen dieses Wissen, um zu überleben, und Frauen sind dabei als Führerinnen des Wandels wichtig. Aber auch Männer können Ökofeministen sein.

Sie haben sich im Laufe Ihres Lebens viele Feinde gemacht, doch wurde Ihr Aktivismus auch mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. Woraus ziehen Sie die Kraft, um weiterzumachen?

Ich betreibe meine Forschungen mit Aufrichtigkeit. Und immer wenn ich realisiere, dass es richtig ist, etwas zu tun, werde ich zur Aktivistin. Ich glaube, wir haben eine Idee von Energie, die den fossilen Brennstoffen entspricht: Etwas muss verbrannt werden, damit etwas anderes läuft. Aber das Leben hat nicht diese Art von Energie. Lebende Systeme basieren auf ihrer eigenen Energie und regenerieren sich selbst. Wenn wir das Leben in vollen Zügen leben und dankbar für das kleinste Insekt sind, das unsere Pflanzen bestäubt, für das grüne Blatt, das uns Sauerstoff gibt und für jeden Tag, den wir leben – sagen Sie mir, warum sollte meine Energie dabei aufgebraucht werden? Das Wort „Shakti“ bezeichnet eine aktive Energie, die Kraft zu handeln. Alles Leben, alles Bewusstsein hat diese Kraft. Das ist es, was die Menschen verstehen müssen. Man hat uns beigebracht, uns abhängig, klein und machtlos zu fühlen. Wir können aber auch klein und mächtig sein – wie ein Samen.