Der Weltgeist ist müde an diesem Samstagnachmittag. Ganz oben, auf dem 1.064 Meter hohen Gipfel des Puig del Teix, scheint er friedlich zu schlafen – und während der Schicksalslenker, der nach dem Glauben des deutschen Philosophen Hegel alle Dinge wieder in Ordnung bringt, die nicht so ganz rund laufen, mit tiefen Zügen ausatmet, pustet er stoßweise feuchtwarme Luftmassen vom flirrend blauen Firmament nach unten, in die verwinkelten Gassen des Dorfes Deià hinein.

Der 620-Seelen-Ort sieht aus wie aus einem Märchen. Honigfarbene Steinhäuser schmiegen sich an den Fuß des Teix. Eine schwarze Katze sitzt auf einer Bank unter einer Eibe und leckt ihre Pfoten. „Mich hat dieses Dorf, das von einem Berg beschützt wird, an biblische Szenen erinnert, als ich zum ersten Mal herkam“, sagt Cecilie Sheridan, die vor dem Hotel La Residencia steht und einen Sonnenhut trägt. Ein Reisebus parkt neben der zierlichen 85-Jährigen, er steht in der einzigen Haltebucht in Deià, der Fahrer lässt den Motor laufen, es riecht nach Diesel. „Diese vielen Touristen in der Hochsaison – das hätte George gar nicht gefallen“, sagt Cecilie Sheridan und schaut stirnrunzelnd zu zwei Frauen mit Bikinioberteilen, die der Bus auf die Straße spuckt.

Ein Herz für alte Meister

1964 sei es auf Mallorca „noch schön leer“ gewesen, meint sie. Damals kam Cecilie Margaret Sims, aufgewachsen in einer katholischen Familie im überwiegend protestantischen Großbritannien, zum ersten Mal auf die Insel. Nach einem Studium an einer Kunsthochschule in Bristol hatte sie ein Diplom in Erziehungswissenschaften gemacht und unterrichtete Malerei, Zeichnen und Kunstgeschichte in der englischen Hauptstadt. Nach Italien war sie schon gereist, um mehr über die Techniken alter Meister zu lernen: Duccio di Buoninsegna, Giotto di Bondone. Auch Spanien interessierte sie. Ihre Londoner Vermieterin besaß ein Haus in Deià und lud sie für zehn Tage ein. „In der Cala Deià habe ich dann zufällig George kennengelernt“, erinnert sie sich.

Liebe auf den ersten Blick

Man kann sich gut vorstellen, wie unbeschwert sich das erste Zusammentreffen der beiden Künstler im Meer angefühlt haben muss. Cecilie und der 15 Jahre ältere George begannen eine Affäre. George war mit der Französin Genevieve Marcorelles verheiratet und hatte mit seiner ersten Frau zwei Kinder: Marie Claude und Patrick George. Cecilie lebte ihr Leben in England, besuchte George aber in den darauffolgenden Jahren regelmäßig in Deià, wo sich der Maler 1958 ein altes Steinhaus gekauft hatte – zum Preis von 10.000 US-Dollar. Der Künstler und Archäologe William Waldren, der in Oxford studiert hatte, hatte George von Deiàs Magie und von den damals recht niedrigen Lebenshaltungskosten erzählt. Mit ihm und acht weiteren Freunden gründete er die Gruppe „Es deux des Teix“, die „Zehn vom Teix“. Elsa Collie, Frank Hodgkinson, Martin Bradley und Norman Yanikun waren unter anderem dabei. Es gab vielbeachtete Ausstellungen in Palma, Barcelona und Madrid.

Georges Sheridans Töchter Amy und Tara mit ihrer Mutter Cecilie Sheridan. Nele Bendgens

Leidenschaftlich und exzessiv

„Diszipliniert, aber auch lustbetont, gierig nach Leben“ – so beschreibt Cecilie Sheridan den Mann, den sie 1974 schließlich heiratete – in dem Jahr, in dem ihre erste Tochter Tara auf die Welt kam. „Er liebte Publikum und erzählte gern Geschichten. Schach spielte er sehr gern – und er war extrem ehrgeizig, jeden Morgen absolvierte er dieselbe Routine und schwamm mehrere Kilometer im Meer.“ In der Familie seiner ersten Frau gab es Winzer. „George lernte viel über Trauben und führte zeitweise ein Weingut in der Nähe von Montpellier“, sagt Cecilie. Wie viele Künstler arbeitete er eine Weile in Paris. 1955 traf er dort Matisse und Giacometti, bevor er sich ein Atelier und eine Wohnung in den Pyrenäen suchte. Warum er sich zur Kunst hingezogen fühlte, kann Cecilie nicht mit Sicherheit sagen. „Er hat nicht so gern darüber gesprochen, aber das Malen war, glaube ich, seine Art, sich exzessiv auszudrücken, viele Gefühle flossen da rein.“

Eine glückliche Kindheit hatte er nicht. Geboren wurde George William Sheridan am 24. Oktober 1923 in Newton im US-Bundesstaat Massachusetts. Seine Mutter kam aus einer schottischen Einwandererfamilie, sein Vater aus einer irischen. Die Mutter verließ die Familie. Sein Vater erzählte George und seinen drei Schwestern, sie sei gestorben. Erst als Erwachsener erfuhr er, dass das eine Lüge war. Als George Sheridan sechs Jahre alt war, bekam sein Vater eine Lungenentzündung. Die Familie konnte kein Penicillin auftreiben, der Vater starb. George und seine Schwestern kamen in eine Pflegefamilie.

Rebellion gegen die Pflegefamilie

„Er hatte Probleme mit seinen Zieheltern und rebellierte. Im Alter von 14 Jahren riss er aus, trampte quer durch die Vereinigten Staaten, wurde aber von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht“, erzählt Cecilie Sheridan. Danach jobbte er und büffelte für die High School. Mit 17 bekam er ein Stipendium für eine Kunstschule in Boston. Sein Lehrer war Karl Zerbe, der 1934 wegen seines jüdischen Hintergrunds Deutschland verlassen hatte und dessen Bilder die Nazis 1937 beschlagnahmten und zerstörten. Die Bostoner Akademie, an der er den jungen Sheridan unterrichtete, war vom deutschen Expressionismus beeinflusst, von „entarteter Kunst“, so hieß das bei den Nazis.

1940 bis 1942 wurde George Sheridan von der US-Armee eingezogen. Wegen einer Lungenschwäche musste er nicht an die Front, sondern wurde dazu verdonnert, Chirurgen zu helfen. „Er sollte Skizzen von Körpern anfertigen, um Operationen zu dokumentieren“, sagt Cecilie Sheridan, „als er das erste Mal einen geöffneten Brustkorb sah, ist er ohnmächtig geworden.“ In den 1960er-Jahren interessierte er sich für Tantra und Buddhismus. Auch der Dadaismus inspirierte ihn. „Außerdem liebte er Poesie“, sagt Cecilie Sheridan.

Der Krebs siegte

Gemeinsam kuratierte das Ehepaar von 1984 an Ausstellungen und prägten das kulturelle Leben in Deià mit. „Wir hatten viele glückliche Jahre, 1977 wurde unsere zweite Tochter Amy geboren, das gab ihm Stabilität. Er hasste es, als Tara zum Studium nach London ging“, sagt Cecilie Sheridan, „seine Familie war ihm wichtig, weil er keine intakte Herkunftsfamilie hatte.“

1992 diagnostizierten die Ärzte bei George Sheridan Kehlkopfkrebs. Seine Erkrankung und die Therapie verarbeitete er unter anderem in 200 Zeichnungen mit dem Namen „Cancer Series“. „Er akzeptierte, was geschah“, sagt Tara Sheridan, „ich glaube, wegen seiner Beschäftigung mit den Lehren des Buddhismus. Ich habe meinen Vater selten so gelassen und friedlich erlebt wie während seiner Erkrankung.

Am Ende loslassen

Haikus 1995 schrieb er 108 Haikus und porträtierte 108 tibetanische Mönche. Die Zahl 108 ist in Südostasien ein Symbol dafür, dass alles eins ist, dass jeder Mensch Teil eines großen Ganzen ist. In der philosophischen Lehre der Non-Dualität heißt dieses Ganze „Brahman“. Es ist allumfassend, formlos, zeitlos. Genauso wenig wie den Weltgeist aus dem deutschen Idealismus kann man „Brahman“ mit Gott gleichsetzen. Eher ist es eine Art höhere Macht, die einen Plan ausheckt, den wir nicht kennen, der uns stolpern lässt, damit wir wachsen können und der uns Begegnungen beschert wie die von George und Cecilie, wenn die richtige Zeit dafür gekommen ist.

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Auch das Loslassen lehrt uns der Weltgeist. Sicher wachte er am Ende über George Sheridan, der 2008 an Krebs starb.