Feinfühlig gewebte Kunst: Das Es Baluard auf Mallorca widmet der Italienerin Maria Lai eine sehenswerte Restrospektive

Zu den wichtigsten Themen der renommierten Künstlerin gehören die Schrift, die Erinnerung und die Gemeinschaft

Blick in die Ausstellung im Es Baluard: Fäden sind zentraler Bestandteil der künstlerischen Sprache von Maria Lai.

Blick in die Ausstellung im Es Baluard: Fäden sind zentraler Bestandteil der künstlerischen Sprache von Maria Lai. / B. Ramon

Brigitte Rohm

Brigitte Rohm

Alle Fäden liefen bei der wohl bekanntesten Performance von Maria Lai (1919–2013) zusammen: Im Jahr 1981 mobilisierte die italienische Künstlerin für „legarsi alla montagna/sich an den Berg binden“ ihr gesamtes Heimatdorf Ulassai auf Sardinien, von den Kindern bis zu den Greisen. Jeder half mit, die Häuser und Balkone im Ort mit langen blauen Stoffbahnen zu verbinden, das Ende des Bandes schließlich mithilfe von Kletterern bis zum Gipfel des nahen Berges Monte Tisiddu zu spannen und ihn so mit dem Dorf zu verknüpfen.

Die Aktion basierte auf einer in dieser Region verbreiteten Legende von einem Mädchen, das von einem Erdrutsch verschont wurde, weil es einem blauen Band gefolgt war.„Am Ende haben alle nicht nur gemeinsam an einem Kunstwerk mitgewirkt, sondern auch so manchen Konflikt beigelegt“, erklärt die Museumspädadogin Maria Verdejo beim Rundgang durch die Ausstellung „La escritura tejida“ (bis 3. September) im Es Baluard. Ein Video und Fotografien zeugen hier von dieser Performance.

Leben zwischen Bergen und Meer

Kunst, das war für Maria Lai etwas von und für die Gemeinschaft, sie sollte nicht das eigene Ego füttern. Nun wird ihr erstmals in Spanien eine Retrospektive gewidmet. Diese ist nicht chronologisch angelegt, sondern spinnt ein Netz aus Themen, die im Leben und Werk der Künstlerin zentral waren.

Eine vom Meer inspirierte Arbeit von Maria Lai.

Eine vom Meer inspirierte Arbeit von Maria Lai. / B.RAMON

Als Kind war Lai kränklich und musste deshalb fort von ihrem Geburtsdorf und nach Cardedu an der Küste ziehen, wo sie bei Verwandten lebte. „Die Landschaft dieser beiden Orte prägte zeitlebens ihr multidisziplinäres Schaffen, ebenso wie das traditionelle Handwerk“, sagt Verdejo. Die Steine aus Ulassai, das Meer von Cardedu und die Kunst des Webens und Brotbackens der Frauen gehören zu den wiederkehrenden Elementen.

Ihre ganz eigene Schrift

Maria Lai, die später in Rom und Venedig studierte, wurde erst mit neun Jahren eingeschult und konnte lange nicht lesen und schreiben – der Lehrer und Dichter Salvatore Cambosu erkannte ihr kreatives Potenzial und führte sie schließlich rhythmisch an die Poesie heran. Doch schon immer hatte sie eine Vorliebe für Geschichten und Legenden gezeigt. Der rote Faden ihres eigenen Ausdrucks sollte der Faden an sich werden, mit dem Lai ihre ganz eigene Schrift kreierte.

So „schrieb“ sie ihre Autobiografie, indem sie Gedanken in abstrakter Form auf Stoff nähte, suchte mit ihren Fäden die geometrischen Strukturen des Universums zu erfassen oder ließ sie anstelle der Namen aus einem Telefonbuch wuchern, um die Verbindung zwischen den Menschen zu symbolisieren. Eine überdimensionale Nähnadel, an der ein dicker metallener Faden hängt, sticht durch eine Ecke in der Wand des ersten Raumes. In manchen Fällen kommt dem Stoff ebenso große Bedeutung zu wie der Schrift – etwa bei einer anderen partizipativen Installation im Dorf: „Die Bewohner hängten ihre Bettlaken vom Balkon, auf die sie einen Gedanken schrieben, der ihnen des Nachts in den Sinn kam“, erklärt Verdejo. Eine Nachstellung dieser Arbeit ist in der Schau zu sehen.

Ein Werk von Maria Lai

Ein Werk von Maria Lai / B.RAMON

Genähte Bücher, geschriebene Bilder

Besondere Verdichtung erfährt Lais Kunst bei ihren „genähten Büchern“, die mit „geschriebenen Bildern“ Geschichten erzählen: von der Veränderung des Menschen im Laufe der Jahre, von einer arbeitsscheuen Biene oder von einer Zauberin, die ihren magischen Fähigkeiten entsagt, um das Leben ihres Sohnes zu retten – eine weitere Dorflegende. „Ein wichtiger Teil von Lais Werk ist die Verbindung des Spiels mit der Kunst“, sagt Verdejo. Dass das Es Baluard zum Museumstag die Ausstellung mit einem Geschichtenerzähler und Spielen für Kinder und Erwachsene belebte und noch weitere pädagogische Angebote plant, hätte Maria Lai mit Sicherheit gefreut.

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