Beantworten die Menschen auf Mallorca moralische Fragen anders, wenn sie auf Spanisch oder Katalanisch gefragt werden?

Ein Forscher auf Mallorca hat den sogenannten Fremdspracheneffekt bei Personen untersucht, die zweisprachig mit Spanisch und Katalanisch aufgewachsen sind

Die Straßenbahn droht, Menschen zu überrollen. Wie würden Sie die Weiche stellen? | F.: MORA

Die Straßenbahn droht, Menschen zu überrollen. Wie würden Sie die Weiche stellen? | F.: MORA / Patrick Schirmer Sastre

Patrick Schirmer Sastre

Patrick Schirmer Sastre

Der Klassiker geht folgendermaßen: Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und rast auf fünf Personen zu. Aber es gibt einen Ausweg: Stellt man eine Weiche um, gerät die Bahn auf ein anderes Gleis. Dort würde die Tram eine Person töten. Was macht man?

Seit Jahren wird dieses Beispiel herangezogen, um den sogenannten Fremdspracheneffekt zu erklären. Forscher haben beobachtet, dass Menschen dazu neigen, in ihrer Muttersprache diese Frage dahingehend zu beantworten, dass sie nicht eingreifen würden. Beantworten sie die Frage in einer Fremdsprache, geht die Tendenz dahin, dass man eher das Allgemeinwohl in den Mittelpunkt stellt – also eine Person opfert, fünf das Leben rettet. Die Forscher erklären sich das damit, dass man in der Fremdsprache eine größere emotionale Distanz empfindet, was einen die Dinge rationaler, nutzenorientierter betrachten lässt.

Wie ist es auf Mallorca?

Aber wie ist es auf Mallorca, wo die Menschen mit zwei quasi gleichberechtigten Sprachen aufwachsen? Diese Frage hat sich nun der Psychologieprofessor Albert Flexas von der Balearen-Universität UIB gestellt. Das Ergebnis der Studie, das er kürzlich in der Zeitschrift „PLoS ONE“ veröffentlichte: Für die Mallorquiner gibt es den Fremdspracheneffekt nicht. „Man kann sagen, wir haben zwei Muttersprachen“, erklärt Flexas. Der 38-Jährige schränkt ein: „Wir haben die Studie nur mit Teilnehmern durchgeführt, die zu Hause Katalanisch sprechen und spätestens in der Grundschule Spanisch gelernt haben.“ Ein Test, ob es in der umgekehrten Version dieselben Ergebnisse gibt, steht noch aus.

Die konkrete Frage mit der Straßenbahn kam bei der Studie auf Mallorca nicht vor. Den Teilnehmern wurden acht andere moralische Problemsituationen vorgestellt. Auf welcher Sprache sie zu lesen waren, war dem Zufall überlassen. Nicht immer waren die Folgen der Entscheidung so drastisch wie bei dem Straßenbahn-Dilemma. Damit wollte man feststellen, ob die Folgen der Handlung die Antwort beeinflussen. Um zusätzlich sicherzugehen, dass die Sprache ausschlaggebend für die Antwort ist, mussten sich die Probanden einem Test unterziehen, der Rückschlüsse auf psychopathische Züge ermöglichen soll.

Der Psychologe Albert Flexas.   | FOTO: SCHIRMER

Der Psychologe Albert Flexas. | FOTO: SCHIRMER / Patrick Schirmer Sastre

Überraschend in einer Hinsicht

Das Ergebnis ist überraschend, da ähnliche Studien bei Menschen, die mit zwei verwandten Sprachen aufgewachsen sind, anders ausfielen. Flexas verweist auf eine Studie in Italien, wo der Test bei Personen durchgeführt wurde, die mit Venezianisch und Italienisch groß geworden sind. Hier wurde das Italienische wie eine Fremdsprache, also nutzenorientierter eingesetzt. „Warum es auf Mallorca anders ist, kann man nicht hundertprozentig sagen. Wir gehen davon aus, dass hier beide Sprachen tatsächlich Teil des Alltags sind, während das Venezianische nur in der Familie gesprochen wird.“

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