Ideologischer Kampf um eine Graphic Novel auf Mallorca: Ist das einfach woke oder schon Pornografie?

Ein Vater zeigt den Lehrer seiner Tochter an, weil in dem Buch, das in der Klasse gelesen wird, auf vier der 156 Seiten explizit eine Sex-Szene dargestellt wird. Die Reaktionen auf der Insel lassen nicht auf sich warten. Die erstarkte ultrarechte Partei Vox gibt sich empört

Der empörte Vater Álex Sansó (re.) mit dem Sprecher der "Christlichen Anwälte", Norberto Domínguez, am Gericht in Palma.

Der empörte Vater Álex Sansó (re.) mit dem Sprecher der "Christlichen Anwälte", Norberto Domínguez, am Gericht in Palma. / Manu Mielniezuk

Johannes Krayer

Johannes Krayer

Es kann Zufall sein, dass Álex Sansó drei Tage nach den Regionalwahlen auf Mallorca und den Nachbarinseln und dem damit verbundenen Rechtsruck auf den Inseln öffentlich vor Gericht in Palma de Mallorca auftritt und ausführlich darlegt, warum er den Spanisch-Lehrer seiner Tochter in Porreres anzeigen wird. Wahrscheinlicher ist, dass es kein Zufall ist, und besonders für die rechtspopulistische Partei Vox mit ihrem Spitzenkandidaten Jorge Campos ist dieser Fall ein gefundenes Fressen in seinem unermüdlichen Bestreben, der Bildungslandschaft auf Mallorca Indoktrination der Schülerinnen und Schüler vorzuwerfen.

Doch von vorne: Corpus delicti ist eine Graphic Novel mit dem Namen "El azul es un color cálido" (Blau ist eine warme Farbe), der im französischen Original "Le bleu est une couleur chaude" heißt und von der Autorin Julie Maroh stammt. Veröffentlicht wurde das 156 Seiten starke Buch, das die Geschichte der 15-jährigen Clémentine hauptsächlich in Bildern erzählt, im Jahr 2010. Die Graphic Novel wurde 2013 auch verfilmt.

Thema Identitätsfindung und Sexualität

Die Geschichte dreht sich rund um die Themen Identitätsfindung und Sexualität. Clémentine trifft auf der Straße die etwas ältere Emma, zu einer Zeit, in der Clémentine gerade ihre Sexualität kennenlernt. Sie ist von Emma auf den ersten Blick fasziniert. Die beiden laufen sich nach einiger Zeit zufällig wieder üebr den Weg und entwickeln kurz darauf eine leidenschaftliche Beziehung. Clémentine verschweigt ihren Eltern ihre Neigung für Frauen und schämt sich für ihre Gefühle zu Emma. Der Comic und der Film sind vielfach ausgezeichnet worden, so etwa im Falle des Kinofilms mit der Goldenen Palma von Cannes.

Durchaus explizit geht es auf einigen wenigen Seiten der Graphic Novel zu.

Durchaus explizit geht es auf einigen wenigen Seiten der Graphic Novel zu.

Álex Sansó störte sich an dem Buch, auf dem auf vier der 156 Seiten durchaus sehr deutlich zu erkennende Zeichnungen eines Liebesaktes zwischen Clémentine und Emma zu sehen sind. So geht es um nackte Brüste, Masturbation oder einen Cunnilingus, auch wenn man das nicht explizit erkennt. Seine 13-jährige Tochter sei nach Hause gekommen und habe verstört von dem Buch erzählt, berichtete Sansó der versammelten Presse vor dem Gerichtsgebäude. Sie habe Übelkeit verspürt angesichts dessen, was sie da in der Schule lesen sollte. Begleitet wurde Sansó vor Gericht von Norberto Domínguez, dem Sprecher der Stiftung "Christliche Anwälte".

"Ideologische Indoktrination"?

Domínguez erklärte, dass Sansó dem Lehrer und der Schule IES Porreres "ideologische Indoktrination" vorwerfe. Man zeige den Lehrer vor Gericht an und wolle außerdem eine einstweilige Verfügung erwirken, damit das Buch nicht mehr im Unterricht eingesetzt wird. Neben der Anzeige gegen den Lehrer vor Gericht wolle Sansó den Pädagogen auch bei der balearischen Bildungsinspektion anzeigen, damit dieser freigestellt werde. Laut dem Sprecher der "christlichen Anwälte" ist die Verbreitung von Pornografie unter Minderjährigen in Artikel 186 des Strafgesetzbuches mit bis zu einem Jahr Haft belegt.

Sansó versichert, dass er nicht alleine sei. Mehrere Eltern der Klasse seiner Tochter hätten ihm eine ähnliche Rückmeldung gegeben, sagte er. "Sie sind komplett überrumpelt und angeekelt gewesen. Unsere Töcher sind 13 Jahre alt und werden gezwungen, so etwas laut vorzulesen, das ist kein Kavaliersdelikt." Die Graphic Novel wird unterdessen für eine Leserschaft zwischen 12 und 15 Jahren empfohlen. An der Schule in Porreres kommt es bereits seit drei Jahren zum Einsatz, bisher ohne größeren Aufschrei der Elternschaft.

Schule, Elternvereinigung und Aufklärungsxperten sehen keine Pornografie

Álex Sansó und möglicherweise ein paar andere Eltern aus der Klasse stehen derweil ziemlich isoliert da. Die Leitung der Schule IES Porreres hatte Sansó bereits vor dessen Anzeige in einem Brief geantwortet, dass man es "angemessen" finde, eine "Vision einer gesunden und in beiderseitigem Einvernehmen stattfindenden sexuellen Beziehung anzubieten". Die Zeichnungen seien "künstlerisch" und hätten einen Erziehungsauftrag, so etwa nicht koitus-zentrierten Sex zu zeigen.

Der Comic sei im Übrigen einvernehmlich von der gesamten Spanisch-Fachschaft und der Verantwortlichen der Schule ausgesucht worden. Und überhaupt seien die meisten Schülerinnen und Schüler in diesem Alter bereits im Internet auf Pornografie gestoßen, weshalb eine derartige Lektüre ein guter Kontrapunkt dazu sei. In einer anderen Reaktion hatte es auch geheißen, die Schule sei im Zuge der LGTBI-Gesetze dazu gezwungen, diesen Comic zu behandeln.

Lieber Comic als Internet-Porno

Und auch Elternvereinigungen und Experten in Sachen Aufklärung auf Mallorca haben sich zu Wort gemeldet und sehen in dem Comic keine Pornografie. "Ein Comic mit 160 Seiten, auf denen auf zwei oder drei erotische Bilder zu sehen sind, kommt mir nicht pornografisch vor", sagte Cristina Conti, Vizepräsidentin der Elternvereinigung FAPA. "Das Buch hilft dabei, wie man ausgehend von der Liebe zum Sex kommt und nicht mit Hilfe des Unsinns, der in Pornos auftaucht."

Weitere Szenen aus der Graphic Novel.

Weitere Szenen aus der Graphic Novel. / Screenshot

Auch Lluís Ballester, der Aufklärungsvorträge in Schulen hält, weiß, dass Jugendliche heutzutage deutlich explizitere Bilder auf ihren Smartphones sehen. Eine Studie der UIB-Professorin Valentina Milano kommt zum Ergebnis, dass über 93 Prozent der 14-Jährigen bereits Kontakt zu Pornos hatte.

Jorge Campos twittert sich Empörung von der Seele

Und so wundert man sich landauf, landab ein wenig über die Empörung, die Jorge Campos von Vox allerdings gerne aufgreift. In einem Tweet machte der ultrarechte Politiker seiner persönlichen Empörung Luft. "Die Schule in Porreres zwingt 13-jährige Schüler einen pornografischen Comic zu lesen. Das ist Verbreitung von Pornos unter Minderjährigen. Die Rechtfertigung der Schule bestätigt einmal mehr einen weiteren Fall der ideologischen Indoktrination. Damit muss schnellstmöglich aufgeräumt werden."

Zu guter Letzt hat sich auch das balearische Bildungsministerium eingeschaltet und versprochen, den Inhalt des Buches auf Verletzungen des Lehrplans hin zu überprüfen. Dahingehend gibt es noch kein Ergebnis.

Abonnieren, um zu lesen

THEMEN