Beim Rundgang mit der MZ zückt Rainer Oberguggenberger sein Handy und fotografiert marode Fassaden und Mauern – zum Vorher-nachher-Vergleich, erklärt der ärztliche Leiter der psychiatrischen Klinik in Palma. Denn das bislang weitgehend abgeschottete Gelände verändert sich gewaltig. Symbolisch begonnen wurde damit am 1. Juli, mit dem Abriss einer Mauer am Carrer Jesús, gegenüber dem Sa-Riera-Park. Auch zum Viertel Bons Aires soll sich der künftig mehr als 90.000 Quadratmeter große Park öffnen. In das Projekt fließen in den kommenden anderthalb Jahren rund sechs Millionen Euro, weitere vier Millionen stehen für die Sanierung der Gebäude und den Abriss weiterer Mauern bereit. Oberguggenberger (Innsbruck, 1973) kam 2008 von Österreich nach Mallorca und arbeitete als Psychiater im Landeskrankenhaus Son Dureta und Son Espases, bevor er 2014 als „Exoten-Kandidat“ Leiter des Hospital Psiquiàtric de Palma wurde.

War es Ihre Idee, die Mauer einzureißen?

Die Idee eines Sanitärparks ist eigentlich nicht neu. Es gibt hier nicht nur die Psychiatrie, sondern auch andere Abteilungen wie die Drogenambulanz. 30 Prozent der Angestellten auf dem Gelände haben nichts mit der Psychiatrie zu tun. Es war eine schleichende Öffnung, ein Prozess, der nicht allen Mitarbeitern gefiel.

Warum?

Es gab Beschwerden, dass hier Anwohner ihren Hund ausführen. Aber das ist ja nicht verboten, auch wenn durch die engen Zugänge dieser Eindruck entsteht. Zunächst gab es aber wichtigere Themen als die Öffnung: Viele Klinikabläufe waren vor einigen Jahren noch unzeitgemäß, die Psychiatrie war nicht gut integriert in das Gesamtsystem der psychiatrischen Betreuung auf Mallorca. Und es gab auch praktische Fragen wie die Sicherung von Elektrokabeln.

Ist der Mauerabriss ein historischer Moment?

Ein wichtiges Symbol war für mich, dass bei dem Akt als erste Rednerin eine frühere Patientin sprach. Das war für mich befriedigend, und dann gönne ich auch den Politikern, die das Vorhaben unterstützen, ihren verdienten moment of glory. Als man die Psychiatrie hier vor rund 100 Jahren eröffnet hatte, waren bei der Grundsteinlegung keinerlei Patienten beteiligt. Das waren noch andere Zeiten. Auf dem Gedenkstein von damals steht manicomio balear, balearisches Irrenhaus. Den Termin der Grundsteinlegung im Jahr 1906 hatte man übrigens zusammengelegt mit dem Hochzeitsdatum des Großvaters von Altkönig Juan Carlos.

Die Öffnung wurde seit Langem vorbereitet?

Was wir hier machen, ist in anderen Ländern schon vor 15 bis 20 Jahren passiert. Die klassischen Psychiatrien wurden früher meist außerhalb errichtet, damit die Patienten nicht gestört wurden und auch niemanden störten. Dann siedelten sich andere Dienstleister an, etwa Allgemeinkrankenhäuser oder Ambulanzen, und die Grenzen lösten sich langsam auf. In unserem Fall haben wir jetzt den Lidl, die Palma Arena und Wohnhäuser direkt nebenan.

So soll der „Parc Sanitari Bons Aires“ einmal aussehen. Im Vordergrund: Parc Sa Riera. | F.: CAIB F.: CAIB

Wie reagieren die Anwohner auf die Öffnung?

Wir stören niemanden, und viele Menschen haben Interesse, dieses schöne Gelände zu erkunden. Als das Thema der Öffnung dann vor vier Jahren konkret wurde, hat die Landschaftsarchitektin Maria Gómez zusammen mit uns und den Patienten geklärt, was das für unsere Arbeit und die Patienten bedeutet. Diese partizipativen Workshops waren ein guter Ansatz. Das Ergebnis war, dass fast alles für eine Öffnung sprach. So entstand die nötige Dynamik in den Gesundheitsbehörden. Vor einem halben Jahr sprang das Rathaus auf den Zug auf, jetzt gibt es eine Gesamtvision für dieses Stadtentwicklungsprojekt. Die Linksregierung kann es gut verkaufen, die Öffnung der Psychiatrie ist eine Win-win-Situation.

Was genau ist geplant?

Der Zugang soll wie bei einem öffentlichen Park sein: Nur nachts wird abgesperrt, wie im Parc Sa Riera gegenüber. Auf Google Maps sieht man eine rosa gefärbte Zone ohne Straßennamen. Jetzt wird die Gegend normalisiert.

Im gesundheitlichen wie städtebaulichen Sinn.

Genau. Die Bevölkerung soll wissen: Es gibt keinen Grund, hier nicht hereinzukommen. Anders als früher: Bis vor 40 Jahren, vor der Psychiatriereform in Spanien, lebten hier rund 1.000 Patienten, es war eine Verwahranstalt. Die Schreie einiger Patientinnen hörte man damals bis draußen vor den Mauern.

Wie viele Patienten leben heute hier?

Die meisten der rund 400 Patienten, die wir jährlich aufnehmen, sind nur kurz hier, etwa drei Wochen. Es gibt derzeit noch 42 Patienten mit einer Aufenthaltsdauer von mehr als sechs Monaten. Einige der Gebäude wie die frühere Wäscherei werden gerade abgerissen und machen dem künftigen Park Platz.

Bleiben trotz des Paradigmenwechsels Patienten, die hier stationär untergebracht sind?

Das Ziel muss eine kurze Aufenthaltsdauer und der Ausbau der ambulanten Versorgung sein. Stabile Patienten sollen schneller einen dauerhaft betreuten Wohnplatz im Sozialbereich bekommen, sollten sie einen benötigen.

Wie kann das funktionieren?

Die älteren stabilen Patienten kann man problemlos in Seniorenheimen unterbringen. Sie fallen dort überhaupt nicht auf und sind gut integrierbar. Im hohen Alter vermindern sich häufig die typischen Symptome der Schizophrenie, und andere Senioren machen mitunter bekanntlich auch manchmal seltsame Dinge. Unser Problem war die spanische Pflegeversicherung, die nicht für psychisch Kranke konzipiert wurde: Bei der Evaluierung spielen vor allem körperliche Einschränkungen eine Rolle. Außerdem war es bis vor einigen Jahren nicht einfach, Patienten von der Psychiatrie in ein Seniorenheim zu transferieren.

Wie ist es dennoch gelungen?

Zum einen mit viel Überzeugungsarbeit. Zum anderen musste sich erst die Einschätzung durchsetzen, dass das psychiatrische Krankenhaus von Palma keine Endstation mehr ist. Dazu muss man wissen, dass die Gesundheitsbehörden gar nicht für die Bereitstellung von Wohnmöglichkeiten zuständig sind, dafür gibt es das Sozialamt des Inselrats, IMAS. Bis zum März 2019 hatten wir mehrere betreute Wohneinrichtungen in Palma und Inca für über 60 Patienten, diese Zuständigkeit inklusive der Mittel haben wir 2019 an das IMAS abgegeben. Seither ist allen klar, dass wir mit dem Thema des betreuten Wohnens nichts mehr zu tun haben.

Was ist mit den verbleibenden jüngeren Patienten in stationärer Behandlung?

Die meisten können wir entlassen, sobald genügend Plätze für betreutes Wohnen da sind. Das ist eine Ressourcenfrage. Es gibt natürlich einige Patienten mit wiederkehrenden schweren Symptomen. Für diese Patienten haben wir jetzt ausreichend Ressourcen im Krankenhaus, um sie vorübergehend aufzunehmen.

Ohne Gefährdung der Öffentlichkeit?

Patienten, die in Straftaten verwickelt sind, werden nach richterlichem Beschluss in der forensischen Psychiatrie auf dem spanischen Festland oder im Gefängnis untergebracht. Ich arbeite auch in Palmas Gefängnis, es gibt eine eigene kleine Abteilung für Insassen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen.

Welche Auswirkungen hatte Corona?

Spezifisch mit Covid zu erklären ist wohl die Zunahme von Essstörungen bei Jugendlichen: Es gibt eine deutliche Zunahme der stationären Aufnahmen wegen Essstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Faktoren wie Inflation und Ukraine-Krieg wirken sich indirekt ebenfalls auf die psychische Gesundheit in der Allgemeinbevölkerung aus, es gibt mehr Unsicherheit und Angst. Bei vielen kann das ein Nährboden für psychische Erkrankungen sein.