Entrevista | Javier Fernández-Simón Regisseur

Großes Theater im Auditorium von Palma de Mallorca: Düsteres Porträt der spanischen Klassengesellschaft

Miguel Delibes' „Los santos inocentes“ handelt von Knechten in den 60ern. Jetzt kommt der Roman auf die Bühne. Regisseur Hernández-Simón erklärt, wieso das Stück noch heute hochaktuell ist

Großgrundbesitzer und ihre Diener: eine Szene aus der Bühnenversion von „Los santos inocentes“.

Großgrundbesitzer und ihre Diener: eine Szene aus der Bühnenversion von „Los santos inocentes“. / Marcos Punto

Marlene Weyerer

Marlene Weyerer

Das Buch „Los santos inocentes“ von Miguel Delibes gilt als einer der großen spanischen Romane des 20. Jahrhunderts. Mit dem Titel „Die heiligen Narren“ wurde der Roman auch ins Deutsche übersetzt. Das düstere Porträt der spanischen Klassengesellschaft in den 1960er-Jahren erzählt die Geschichte einer Familie, die seit Generationen Großgrundbesitzern dient.

Da sind die Eltern Régula und Paco, die das Dienen gewohnt sind. Der geistig behinderte Onkel Azarías mit seiner Liebe für die Natur. Und die Kinder, die hoffen, durch Bildung diesem Leben zu entfliehen. Die Figuren und die Handlung sind spätestens seit der Verfilmung 1984 im kollektiven Gedächtnis der Spanier verankert. Am Wochenende ist nun eine Theaterversion im Auditorium in Palma zu sehen. Regie führt der 45-jährige Baske Javier Fernández-Simón.

Bei so legendären Vorlagen wie dem Roman und dem Film war es sicherlich nicht einfach, eine eigene Version von „Los santos inocentes“ zu erstellen. Wie sind Sie vorgegangen?

Das Schwierigste war tatsächlich, die Angst vor diesen Vorlagen zu verlieren. Ich habe mich am Anfang gefragt: Wenn der Roman perfekt ist und der Film perfekt ist, was soll ich dann eigentlich noch machen? Ich habe die Theaterfassung zusammen mit dem wunderbaren Autor Fernando Marías geschrieben, der leider kurz vor Probenbeginn verstorben ist. Wir haben schnell bemerkt, dass der Roman eine großartige Grundlage für eine szenische Darstellung liefert. Am Film haben wir uns gar nicht orientiert, wir wollten direkt bei der Quelle starten. Es war uns dabei wichtig, etwas Eigenes zu schaffen, gleichzeitig aber den Geist von Miguel Delibes’ Werk zu erhalten. Ich denke, das haben wir geschafft.

Der Roman wurde 1981 geschrieben und spielt in den 1960ern. Was sagt uns die Geschichte über Knechte und Herrscher heutzutage?

Die Geschichte ist noch heute hochaktuell, es ist, als würde Miguel Delibes von uns erzählen. Das macht den Roman zu einem solchen Meisterwerk. Wir kämpfen bis heute mit den gleichen Problemen wie die Knechte damals.

Zum Beispiel?

Noch heute haben nicht alle Menschen die gleichen Chancen im Leben, und die Lösung ist weiterhin dieselbe. Bildung als Weg, um individuelle Freiheit zu erlangen, ist ein fundamentaler Aspekt des Romans. Nur mit mehr Bildung kann es Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft geben. Insgesamt zeigt das Werk uns eine Welt, in der die sozialen Hierarchien sehr stark sind und viele nur dafür leben, um den wenigen Reichen Luxus zu ermöglichen. Das sollte uns heutzutage stark zu denken geben.

Die Figur Paco lebt geradezu, um zu dienen, und tut es auch gern. Ist er eine Warnung an die Leser beziehungsweise das Publikum?

Paco ist nicht unbedingt jemand, der gern dient. Er ist ein Mann, der seit seiner Kindheit dazu erzogen wurde. Ihm wurde über die Jahre die Fähigkeit weggenommen, selbst Entscheidungen zu treffen oder auch nur Nein zu sagen. Wir alle waren schon einmal Paco. Sei es aus Angst vor den Mächtigen oder aus Sorge, ohne Job und Einkommen unsere Familie nicht ernähren zu können. All das führt dazu, dass wir irgendwann denken und sogar fühlen, dass die Stellung, die wir in der Gesellschaft zugeschrieben bekommen haben, wirklich zu uns als Person gehört. Das Werk von Delibes erlaubt uns, darüber nachzudenken, was unsere Rolle in der Gesellschaft ist, und uns zu fragen, woher unsere Angst davor kommt, sie zu ändern. Um den Mächtigen entgegenzutreten, müssen wir erst verstehen, dass wir in einer ungerechten Welt leben.

Javier Hernández-Simón führte bei "Los santos inocentes" Regie.

Javier Hernández-Simón führte bei "Los santos inocentes" Regie. / David Hernández

Haben Sie das Gefühl, dass diese Inhalte beim Publikum ankommen?

Auf jeden Fall. Nach den Aufführungen kommt immer irgendjemand aus dem Publikum zu uns und sagt uns, dass „Los santos inocentes“ die Geschichte seiner oder ihrer Familie beschreibt. Es ist sehr berührend zu sehen, dass die Theatersäle voll sind. Schließlich ist es für uns als Gesellschaft wichtig, uns an unsere Geschichte zu erinnern, die gar nicht so lange her ist. Es ist auch wichtig, uns an die großen Texte unserer Literaten zu erinnern. Sie helfen uns, darüber nachzudenken, wer wir waren, wer wir sind und wer wir sein wollen. Abgesehen von allem anderen freuen uns natürlich der kräftige Applaus und die Begeisterung des Publikums sehr.

Das Stück dürfte nicht zuletzt wegen Javier Gutiérrez, der Paco spielt, viele Zuschauer anziehen. Gutiérrez ist ein bekanntes Gesicht der hiesigen Film- und Fernsehlandschaft und hat bereits zwei Mal den höchsten spanischen Filmpreis Goya gewonnen.

Das stimmt. Javier Gutiérrez ist großartig und war vom ersten Moment an von dem Projekt begeistert. Er hat extrem viel gearbeitet, um das Stück voranzubringen. Aber nicht nur Javier Gutiérrez, sondern die gesamte Besetzung war von einer außerordentlichen Qualität. Sie alle zusammen auf der Bühne zu sehen, ist denn auch einer der Höhepunkte dieser Inszenierung.

Bei der Tournee durch Spaniens Städte war „Los santos inocentes“ meist ausverkauft. Bei anderen Werken bleibt das Publikum aber aus. Hat das Theater an Stellenwert verloren?

Es fehlt in Spanien der politische Wille, unsere Bühnenlandschaft zu verteidigen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass das Theater etwas Besonderes ist. Ich bringe dafür immer das gleiche Beispiel: Wenn wir ins Kino gehen und einen leeren Saal sehen, freuen wir uns, den Film ganz für uns allein zu haben. Wenn wir einsam im Theatersaal sitzen, ist es dagegen eine traurige Erfahrung. Ins Theater gehen wir, um uns zu versammeln, um gemeinsam etwas zu erleben. Die Bühnenkünste werden immer in der Krise sein, weil sie nicht die finanzielle Unterstützung erhalten, die sie bräuchten. Aber das Theater wird nie verschwinden, weil es eine besondere Beziehung zwischen dem Werk und dem Publikum erzeugt. Und damit ist es unersetzlich.