Entrevista | Miquel Mas Fiol Theaterregisseur und Dramatiker

Warum Goethes "Werther" einen Theaterregisseur auf Mallorca begeistert – und er die Hauptrolle mit einer Frau besetzt hat

Mit einer sehr kühnen Adaptation von "Die Leiden des jungen Werther" ist der junge mallorquinische Regisseur und Dramatiker Miquel Mas Fiol für einen Theaterpreis nominiert

Blaue Hosen und goldene Stiefel wie im Original: Mel Salvatierra verkörpert Werther.

Blaue Hosen und goldene Stiefel wie im Original: Mel Salvatierra verkörpert Werther. / Tantarantana

Brigitte Rohm

Brigitte Rohm

Miquel Mas Fiol ist erst 27, doch er lebt schon seit Jahren für das Theater: Sein Stück „Primavera de bèsties“ gewann den renommierten Pare-Colom-Preis – am 10.10. ist es wieder auf Mallorca, im Teatre Mar i Terra zu sehen. Am 9.10. läuft sein Werk „CR#SH“ im Teatre Principal. Seine freie Inszenierung des „Werther“ ist derzeit für die Premis Teatre Barcelona im Rennen. Ein Gespräch über Goethe und die Leiden der jungen Generation heute.

Miquel Mas Fiol, Regisseur und Bühnenautor.

Miquel Mas Fiol, Regisseur und Bühnenautor. / privat

Kein deutscher Schüler kommt an „Die Leiden des jungen Werther“ vorbei. Wie ist es auf Mallorca, was war Ihr erster Kontakt mit dem berühmten Goethe-Stoff?

Auch ich kam damit zuerst im Literaturunterricht in Berührung. Natürlich gibt es Werke, die bei uns noch mehr Bedeutung haben – dem „Don Quijote“ entkommt man nicht, und im Katalanisch-Unterricht ist „La plaça del Diamant“ von Mercè Rodoreda Pflicht. Aber ich hatte eine Lehrerin, die uns auch sehr für Klassiker der Weltliteratur begeistert und den „Werther“ nähergebracht hat. Wir haben nur ein paar Auszüge besprochen, aber es hat mir so gefallen, dass ich den Rest zu Hause gelesen habe.

Sie haben die Werther-Inszenierung als Gast-Intendant am Teatre Tantarantana in Barcelona entwickelt. Was war die Grundidee des Projekts?

Ich habe eine Ausschreibung gewonnen und bin insgesamt für zwei Jahre an diesem Theater. Jede Spielzeit beinhaltet ein Projekt, und wir mussten schon zu Beginn unseren Plan präsentieren. Ich hatte in dem Jahr eine aktualisierte Bühnenmonolog-Version von Voltaires „Candide oder der Optimismus“ inszeniert. So schlug ich dem Theater vor, das Konzept weiterzuführen und als Trilogie drei Klassiker der Weltliteratur auf die heutige Zeit zu übertragen. Verbindende Elemente sollten sein, nur einen Schauspieler oder eine Schauspielerin zu haben und ein bestimmtes soziologisch-philosophisches Thema zu behandeln. Beim ersten Teil ging es um die Tyrannei des Glücks. Der zweite wurde Goethes „Werther“, unter dem Gesichtspunkt der Traurigkeit und ihrer Zurschaustellung. Der dritte Teil nächstes Jahr ist noch geheim.

Wie kam es zu der Entscheidung, dass Ihr Werther weiblich ist und von der Schauspielerin Mel Salvatierra gespielt wird?

Es gab ein Casting, bei dem das Geschlecht nicht vorgegeben war. Ich wollte mich überraschen lassen. 300 Bewerberinnen und Bewerber meldeten sich, und Mel Salvatierra überzeugte mich am meisten. Sie hat die Fähigkeit, auf Knopfdruck starke Emotionen zu zeigen. Ich wollte die Leute an einen Punkt bringen, wo sie nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen. Bei einem Monolog ist es das Wichtigste, jemanden mit Charisma zu haben. Mel Salvatierra hat einfach alles – und zeigt die gleiche Sensibilität wie Werther.

Was ist sonst noch vom Original-Werther in Ihrer Interpretation des Stoffs übrig geblieben?

In der Geschichte gibt es vier Figuren: Werther, Wilhelm, Lotte und Albert. Ich habe diese Konstellation auf das Leben der Schauspielerin übertragen: Mel Salvatierra fängt bei einer Werther-Inszenierung an und verliebt sich auf einer professionellen Ebene in den Regisseur, also in mich. Sie will ihm um jeden Preis gefallen. Es ist diese speziell Form von Bewunderung gegenüber einem Chef, die krankhafte Züge annehmen kann, und wo die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem verschwimmen. Mel ist also Werther, ich bin Lotte – was ich am Anfang nicht etwartet hatte! –, mein Regieassistent ist Albert und eine geheimnisvolle Figur, die Mels Nachrichten bekommt, ist Wilhelm.

Was hat Sie an „Werther“ so gereizt?

Die große Frage, die ich mir anfangs stellte, war: Kann man diese Gefühle von Werther, die romantische Liebe schlechthin, in unsere Zeit übertragen? Gibt es zeitgenössische Werther? Abgesehen davon hat mich besonders der Kontext interessiert, in dem das Werk entstand – die Tatsache, dass Goethe noch sehr jung war, als er diesen Briefroman schrieb und Ähnliches durchgemacht hatte wie sein Protagonist. Im Grunde sprechen wir von Goethe, wenn wir von Werther sprechen. Er schrieb sich mit der Figur all seinen Schmerz von der Seele. Und dieser Schmerz wurde schließlich kommerzialisiert: Das Werther-Fieber brach aus, die Leute kleideten sich sogar wie Werther.

Bei Ihrer Adaptation geht es unter anderem um dieses „Sadfishing“, um die Ausschlachtung der Trauer, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Werther beklagt sein Leid aber in privaten Briefen an seinen Freund, nicht vor einem großen Publikum bei Instagram.

Der große Unterschied zur jungen Generation heute ist: Wenn wir Briefe für uns selbst schreiben, drängt uns irgendetwas dazu, sie öffentlich zu machen. Heutzutage ist es anscheinend so: Wer seine Trauer nicht in den sozialen Medien offen zeigt, ist zur Irrelevanz verdammt. Wir müssen uns alle authentisch und individuell präsentieren. Im Gegensatz zur Romantik hat die Ausbeutung der Intimsphäre ein extremes Ausmaß angenommen. Tauschen wir Tränen gegen Likes? Auch diese Frage stellt das Stück. Doch im Streben nach Authentizität und dem damit verbundenen Wunsch, sich geliebt zu fühlen, so wie man ist, steckt etwas zutiefst Wertherisches.

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