Meinung | ANSICHTEN VOM BALKON

Die eigene Erschöpfung nicht mit der des Universums verwechseln

MZ-Kolumnist Juan José Millás regt ein Besuch im Krankenhaus an, seine eigene Verletzlichkeit zu betrachten

Müdigkeit führt zum Gähnen

Müdigkeit führt zum Gähnen / Foto: Christin Klose/dpa-tmn

Häufig glauben wir, dass die Welt zusammenbricht, während wir es sind, die zusammenbrechen. Eher bricht mein eigenes Fundament zusammen als das der Welt, wobei Letzteres tröstlicher ist. Heute bin ich völlig verstört aufgewacht, weil ich von etwas geträumt habe, an das ich mich nicht erinnern kann. Während ich mich rasiere, höre ich die Stützbalken der Realität ächzen. Die Realität steht kurz vorm Zusammenbruch, denke ich mir. Aber als ich auf die Straße gehe, ist die Wirklichkeit noch intakt.

Ich fahre zum Krankenhaus, um ein Frühchen zu besuchen, den Sohn eines Verwandten. Das Frühchen atmet in seinem Brutkasten fast besser als ich außerhalb des Brutkastens. Der Inkubator funktioniert, das Baby funktioniert. Allmählich wird mir klar, dass ich derjenige bin, der sich mit halber Geschwindigkeit bewegt.

Was mir alles passieren kann

Dann schlendere ich durch das Krankenhaus, durch die einzelnen Stationen, die Cafeteria. Ich sehe alle möglichen Arten von Krankheiten und Verletzungen und mache innerlich eine Buchführung über alles, was mir passieren kann und nicht passiert ist. Mir ist kein Ziegel auf den Kopf gefallen, ich habe mir nicht das Bein gebrochen, ich hatte weder eine Netzhautablösung noch einen Darmverschluss noch eine Fischvergiftung, mir ist kein Hühnerknochen im Hals stecken geblieben.

Ich fühle mich privilegiert. Was war das, das ich beim Rasieren knarren hörte? Vielleicht meine eigene Feigheit. Vielleicht war ich zu faul, den Motor meines Seins einen weiteren Tag anzuwerfen. Das ist in Ordnung, man hat das Recht, müde zu werden, aber man darf die eigene Erschöpfung nicht mit der des Universums verwechseln. Das Universum macht mit all seinen Schwierigkeiten weiter, so wie das Frühgeborene im Inkubator um sein Leben kämpft. Draußen ist es kalt, aber die Sonne scheint. Vielleicht mache ich vor der Arbeit noch einen Spaziergang.

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