Im Wahlkampf für die vorgezogenen Parlamentswahlen in Spanien am 28. April war die Europapolitik fast völlig abwesend. Auch die Journalisten interessierten sich nicht für die Europäische Union, wie die beiden 90-minütigen Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten verdeutlichten. Das dürfte sich in den Wochen vor der Wahl zum Europarlament am 26. Mai kaum wesentlich ändern. Denn an diesem Tag wird in Spanien auch über die Zusammensetzung von zwölf der 17 Landesparlamente, darunter der Balearen, sowie aller Kommunen des Landes abgestimmt. Und Lokalpolitik steht nun einmal eindeutig im Vordergrund des Interesses der Politiker, der Medien und wohl auch der meisten Wähler. Daran ändern auch der Europatag am 9. Mai und der offizielle Auftakt der Kampagne am Tag darauf nicht viel.

Spanien schickt, nachdem Großbritannien durch den Aufschub des Brexit nun doch an der Europawahl teilnehmen muss, 54 Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg. Anders als bei nationalen und regionalen Wahlen gibt es nur einen einzigen, landesweiten Wahlkreis. Die Verteilung ist ganz proportional und es gibt keine Mindestschwelle. Beim Urnengang vor fünf Jahren reichten Primavera Europea, einer Koalition kleiner Regionalparteien, 1,9 Prozent der Stimmen für einen Sitz im Europaparlament. Die rechtsradikale Vox, damals gerade neu entstanden, ging als Nächstplatzierter mit 1,6 Prozent leer aus. Die regionalen Parteien Spaniens schließen sich wegen dieser Verteilung zu gemeinsamen ­Listen zusammen, wie etwa Proposta per les ­Illes Balears, die zusammen mit der baskischen PNV, der Coalición Canaria und anderen unter dem Namen Coalición por una Europa ­Solidaria antritt. Insgesamt stehen am 26. Mai elf Kandidaturen zur Auswahl.

Pedro Sánchez geht nach dem Sieg seiner Sozialisten (PSOE) bei den Parlamentswahlen am 28. April mit einem Vorteil ins Rennen. Während er daheim ohne große Eile Partner für seine Wiederwahl im Parlament sucht, reist Spaniens amtierender Ministerpräsident zum europäischen Gipfeltreffen in Rumänien in dieser Woche. Im Gepäck hat Sánchez einen Katalog von Vorschlägen für seine Amtskollegen wie etwa eine europäische Arbeitslosenversicherung oder einen Haushalt für die Eurozone. In den bisherigen zehn Monaten seiner Minderheitsregierung seit dem geglückten Misstrauensvotum gegen den Konservativen Mariano Rajoy konnte der Sozialist die meisten europäischen Regierungschefs positiv überraschen. In Berlin war man erfreut über die aktive pro-europäische Politik des Spaniers und dessen bisherigen Außenminister Josep Borrell - ein Gegensatz zum passiven Ansatz unter Rajoy. Borrell, Ex-Präsident des Europaparlaments, ist nun auch der Spitzenkandidat der PSOE für den 26. Mai.

Die konservative Volkspartei (PP) schickt die bisherige Fraktionssprecherin im Unterhaus und frühere Gesundheitsministerin ­Dolors Montserrat ins Rennen. Das Programm für die Europawahl war bei Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht. Im Programm für die spanischen Parlamentswahlen vom 28. April sprach sich die PP für eine Vertiefung der europäischen Integration aus. Doch die meisten Vorschläge spiegelten eher nationale Interessen wider, etwa die Situation in Gibraltar oder die Forderung, dass die Anklage auf „Rebellion" automatisch zu einer Auslieferung unter dem Eurohaftbefehl führen soll. Letzteres ist offensichtlich auf den Fall des abgesetzten Ministerpräsidenten Kataloniens, Carles Puigdemont, gemünzt, der sich auf der Flucht vor der spanischen Justiz nach Belgien absetzte. Als er vergangenes Jahr in Deutschland festgenommen wurde, verweigerte das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein die Auslieferung nach Spanien, da es den Tat­bestand der Rebellion anzweifelte.

Puigdemont führt nun die Liste von Lliures per Europa („Frei für Europa") an, nachdem die spanische Justiz einen Einwand der PP abgelehnt hat. Der Separatistenführer war in der Vergangenheit eigentlich gar nicht gut auf die EU zu sprechen. Er machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung darüber, dass sich Brüssel nicht in den Konflikt in Katalonien einmischen wollte, wie auch nicht in den laufenden Gerichtsprozess gegen weitere Separatisten, die nicht geflohen sind. So etwa Puigdemonts ehemaliger Stellvertreter, Oriol Junqueras, der mit seiner republikanischen ERC, den baskischen Separatisten von Bildu und anderen kleineren Parteien unter dem Namen Ahora Repúblicas kandidiert. Sollte Puigdemont ins Europaparlament gewählt werden, wird es zu einem Tauziehen kommen. Denn sein Mandat müsste er im spanischen Unterhaus annehmen, wo ihm die Verhaftung droht. Der Katalane und dessen Rechtsberater versichern dagegen, dass er bereits ab der Veröffentlichung des offiziellen Wahlergebnisses Immunität ­genießen würde. Puigdemont behauptet, dass Europas „demokratische Glaubwürdigkeit" in Gefahr sei.

Abgesehen vom für die EU unbequemen Katalonien-Konflikt ist und bleibt Spanien aber eines der europafreundlichsten Mitglieder der Union. Die rechtsliberalen Ciudadanos stehen für mehr Europa und eine weitere Integration und schlagen etwa vor, den Europatag am 9. Mai zum Feiertag zu machen. Die Linkskoalition Unidas Podemos hat ein 81-seitiges Programm für den Europawahlkampf ausgearbeitet, mit vielen konkreten Vorschläge für eine „radikale Demokratisierung" der Institutionen wie etwa einer Stärkung des EU-Parlaments. Bei der letzten Europawahl vor fünf Jahren hatte Podemos unter dem Eindruck der Kürzungen durch die Krise noch in schärfsten Tönen gegen Brüssel gewettert.

Selbst die rechtsradikale Vox stellt im Gegensatz zu ihren Gesinnungsgenossen in anderen Ländern die EU nicht grundsätzlich infrage. Sie fordert ein starkes Spanien in Europa, das nur auf seine eigenen Interessen achten solle. Vox macht die Europapolitik für den Anstieg der Migration über das Mittelmeer verantwortlich. Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, Spanien wird nicht zum befürchteten Anwachsen europafeindlicher Kräfte im neuen EU-Parlament beitragen.