Unglückseliger König der Tiefsee: Warum der Grauhai so oft tot auf Mallorca angespült wird

Das Leben am Meeresgrund wird dem Stumpfnasen-Sechskiemerhai, auch Grauhai genannt, zum Verhängnis

Ein „Hexanchus griseus“, hier bei einer Sichtung südlich von Guam im Westpazifik.

Ein „Hexanchus griseus“, hier bei einer Sichtung südlich von Guam im Westpazifik. / 'National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) | Office of Exploration and Research (OER)

Brigitte Rohm

Brigitte Rohm

Es mag nicht sein größtes Problem sein, aber der Stumpfnasen-Sechskiemerhai oder Grauhai (Hexanchus griseus) ist das Opfer einer Verwechslung: Wann immer ein verendetes Exemplar des auf Spanisch auch tiburón durmiente genannten Tieres auf Mallorca angeschwemmt wird, wie es zuletzt im Dezember gleich zweimal in Port d’Andratx geschah, übersetzen ihn deutschsprachige Medien fälschlicherweise mit „Schlafhai“. Diesen Hai gibt es zwar auch, es handelt sich dabei aber um eine völlig andere Art (die Somniosidae).

Hexanchus griseus ist weltweit verbreitet und hält sich immer in der Nähe der Küsten auf. Genaue Daten zur Größe des Bestands gibt es nicht. Laut dem Meeresbiologen Aniol Esteban, Leiter der Meeresschutzstiftung Fundació Marilles, kommen die Tiere überall rund um die Balearen vor, wobei es in Calvià und Andratx, also zwischen Mallorca und Ibiza, auffällig viele seien.

Seine Theorie dazu: Dort sammeln sich seit einigen Jahren infolge einer illegalen Fangmethode Thunfischkadaver auf dem Meeresgrund – eine Nahrungsquelle für die unter anderem aasfressenden Haie. Sie ernähren sich auch von Krebstieren, Kopffüßern, Fischen und Knorpelfischen wie Rochen und anderen Haien.

Aniol Esteban, Leiter der Meeresschutzstiftung Marilles. | F: NELE BENDGENS

Aniol Esteban, Leiter der Meeresschutzstiftung Marilles. / Nele Bendgens

Ein lebendes Fossil

Der Grauhai ist ein lebendes Fossil: „Man vermutet, dass die Gattung der Sechskiemerhaie älter ist als andere und schon vor rund 200 Millionen Jahren existierte“, erklärt Esteban im Gespräch mit der MZ. Seinen spanischen Beinamen verdankt der bis zu sechs – im Mittelmeer meist eher vier bis fünf – Meter lange Hai der Tatsache, dass er tagsüber fast reglos am Meeresboden verweilt. Nachts wird er aktiv und steigt auf Nahrungssuche vertikal in seichteres Wasser auf. „Er verbringt aber viel Lebenszeit in großer Tiefe von mindestens 150 bis hin zu etwa 2.000 Metern“, sagt Esteban.

Dies ist der Grund, weshalb der für den Menschen harmlose Riese ein relatives Schattendasein fristet, kaum jemals einem Taucher begegnet, dafür aber umso öfter zum Opfer wird: „Manchmal passiert es, dass ein ruhender Stumpfnasen-Sechskiemerhai in das Grundschleppnetz eines Trawlers gerät, der in tiefen Gewässern nach Garnelen fischt“, erklärt Esteban. Für die Fischer wahrlich kein Grund zur Freude: „Garnelen sind fragil, und wenn man zu ihnen eine 200-Kilo-Kreatur ins Netz presst, zerstört das den ganzen Fang.“

Dialog mit den Fischern

Nun gebe es zwei Arten von Fischern: Verantwortungsvolle, die den verunglückten Hai möglichst lebend wieder freiließen, und verantwortungslose, die ihm einen Schlag auf den Kopf verpassten. „Einige Haie, die hier tot angespült wurden, wiesen Axtspuren am Körper auf“, so der Meeresbiologe.

Ein angeschwemmter toter Grauhai 2010 in Andratx.

Ein angeschwemmter toter Grauhai 2010 in Andratx. / L. Gutierrez

Längst nicht alle Fischer fänden das gut, da solche Bilder den ganzen Berufsstand in ein schlechtes Licht rückten. So setzt die Fundación Marilles für den Schutz der Tiere auf den Dialog mit den Fischern: „Ich glaube, sie haben hier die Chance, aus der Not eine Tugend zu machen: Sie verlieren kaum Einnahmen, weil die Haie zwar einen enormen ökologischen, aber praktisch keinen kommerziellen Wert haben, und sie gewinnen dafür jede Menge Sympathien, wenn sie die Tiere retten“, sagt Esteban.

Laut dem Meeresbiologen sind die beiden Haiarten, die am häufigsten rund um die Balearen tot angespült werden, Stumpfnasen-Sechskiemerhaie und Blauhaie (Prionace glauca) – die einzige weitere Art, die hier in Küstennähe anzutreffen sei. Aniol Esteban: „Das beweist zumindest, dass es von diesen Arten noch Exemplare im Meer vor den Balearen gibt – im Gegensatz zum Großen Hammerhai, dem Weißen Hai oder dem Makohai, deren Population im Mittelmeer um mehr als 90 Prozent zurückgegangen sind.“

Kannibalen im Mutterleib

Haie stehen vor der Herausforderung, dass sie langsam wachsen, erst nach einigen Jahren geschlechtsreif werden und meist nur wenig Nachwuchs haben – das macht sie besonders anfällig für jede Art von Bedrohung. Der Stumpfnasen-Sechskiemerhai hat jedoch vergleichsweise viele Nachkommen, da in ihm 30 bis 90 Eier heranreifen können.

Er ist ovovivipar, das heißt: Die Eier werden im Mutterleib ausgebrütet, und die Jungtiere schlüpfen noch im Körper des Muttertieres. „Die Ersten fressen die Eier und Embryone ihrer Geschwister – das nennt man intrauterinen Kannibalismus“, sagt Esteban. Auch wenn am Ende nur die Hälfte der Jungtiere übrig bleibe, sei die Zahl der überlebenden Baby-Haie durch die „Ei-Lebend-Geburt“ höher als bei vielen anderen Arten.

Eine ähnlich gute Reproduktionsrate habe der Blauhai. „Das erklärt auch, dass diese beiden Haie nicht so stark gefährdet sind wie andere Arten“, sagt Estaban. „Man darf aber deshalb nicht zu optimistisch sein: Ihre im Vergleich gute Fortpflanzungsrate hat es ihnen bloß ermöglicht, dem Druck durch die Fischerei ein klein wenig besser standzuhalten.“