Es ist kurz nach drei Uhr in der Früh, als sich der junge Fußballer entschließt, alles bis dahin an diesem Abend in der Schinkenstraße Gesehene in den Schatten zu stellen. Er setzt sich in einen Pflanzenkübel neben den Fanshop des Bierkönigs. Direkt dort, wo einst die Schinkenbude stand, die der Straße den Namen gab, lässt er die Hose herunter und stuhlt ins Beet. Die herumstehenden Nachtschwärmer feuern ihn dabei an, auch wirklich alles zu geben. Er lächelt benommen.

Willkommen in der Ballermann-Saison 2022. Die Saison, die eigentlich die erhoffte Wende bringen sollte, in der alles gut, edel, schön werden würde. In der sich der Ballermann endlich in Palma Beach verwandeln hätte können. Preislich und optisch hat sich das Schmuddelkind tatsächlich verändert. Doch lasset alle Hoffnung fahren, in diesem Juni ist die hässlichste Fratze des Ballermanns zurückgekehrt. Und das wuchtiger als je zuvor, weil an der Playa gerade einiges zusammenprallt.

„Doppelt so viele Leute wie sonst“

Wäre dieser nächtliche Augenblick in der Schinkenstraße eine Ausnahme, könnte man sich vielleicht über den Totalausfall des Jugendlichen als Momentaufnahme amüsieren. Doch die Situation hat sich verschärft, finden Anwohner, Betreiber und Angestellte. „Doppelt so viele Leute hier wie sonst, doppelt so viele Asoziale“ seufzt Tommy* (Name geändert), der seit 28 Jahren auf Mallorca lebt und als Promoter und Security arbeitet.

Gehören dazu: die Motto-Shirts. | FOTO: DANIEL JACOB

Daran sei Corona schuld, meint der Berliner. „Die Leute sind egoistischer geworden. Die interessieren sich nur noch für sich und ihr Vergnügen. Selbst ihre besoffenen Kumpels lassen sie mittlerweile auf der Straße liegen.“ Oder sie posten ihren Vereinskameraden in bedauernswerter Positionen in den sozialen Netzwerken.

Tommy gehört zur Fraktion „Früher war alles besser“. Er erlebte die ganz wilden Zeiten Ende des letzten Jahrtausends, als noch Nacktpartys gefeiert wurden. Er stand aber auch mittendrin, als es derb und rau wurde am Ballermann in den Jahren 2016 und 2017. Doch jetzt ist seiner Meinung nach alles noch asozialer. Und das soll schon was heißen.

Betrunkene werden von ihren Freunden auch schon mal liegen gelassen. | FOTO: DANIEL JACOB

Mit Wodka Cola im Flieger

Ryanair Flug FR226 am Montagnachmittag von Berlin nach Palma. In Reihe 30/31, Plätze A bis C erfreuen sich sechs Jungs an der Reisefreiheit. In ihren Trinkflaschen verbirgt sich Wodka Cola, aus der Bluetooth-Box wird das Flugzeug mit Mia-Julia-Musik beschallt: „Mallorca, da bin ich daheim“, dröhnt es durch den Flieger. Mehrfache Beschwerden der Mitreisenden führen ins Leere. Gegen Ende des Fluges baut sich die Stewardess vor den stark angetrunkenen Brandenburgern auf. „This is a flight and not a disco“, schnauzt sie die Männer an. Die lachen. „Scheiß drauf, Malle ist nur einmal im Jahr“, nuschelt einer. Anschließender tumultartiger Applaus aus den gleichen Reihen bei der Landung.

Am frühen Abend gleicht die Schinkenstraße einem Flohmarkt. Die senegalesischen Straßenhändler haben ihre Ramschwaren ausgerollt und preisen diese jedem Passanten zwischen Bamboleo und Bierkönig an. Mo (31) kommt aus einem kleinen Dörfchen in der Nähe von Dakar. Trotz des Andrangs ist er missmutig. „Mehr Leute als sonst“, sagt er, „aber sehr jung.“ Übersetzt bedeutet das, weniger Geld in den Urlaubertaschen, weniger Geld für Mo, der Teile seines kärglichen Einkommens an seine Familie im Senegal überweist. Er fügt noch etwas hinzu: „Sehr jung und sehr viel Alkohol!

Peter (34) ist im wahrsten Sinne des Wortes angepisst. „Ich stand beim Tim-Toupet-Auftritt im Bierkönig“, erzählt der Schwabe, der seit Jahren an die Playa kommt. „Auf einmal läuft etwas Warmes an meinem Bein herunter. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie der Typ hinter mir mich einfach anpinkelt.“ Der Abend ist für beide anschließend schnell beendet. Generell sei für ihn der Ballermann nicht mehr das, was er einmal war, so Peter. „Die Schinkenstraße ist nachts wie eine Teenie-Zombie-Apokalypse.“

Ebenfalls viel los ist in und rund um den Megapark, der neuerdings selbst an einem Montagabend mit Mindestverzehr arbeitet. 10 Euro müssen die Gäste zahlen, um das deutsche DJ-Duo „HBz“ zu erleben, das ab 0.30 Uhr im unteren Bereich des Partylokals auflegt. Dafür gibt es einen Verzehr-Gutschein. „Unser Laden ist dafür gedacht, dass man hier trinkt“,wimmelt einer der Promoter am Eingang Gäste ab, die sich erkundigen, ob es auch ohne Mindestverzehr ginge.

Unter Beobachtung

Dass Megapark und Bierkönig unter Beobachtung stehen, ist nicht nur den Betreibern der Riesen-Kneipen bekannt. Schon lange sind die Wahrzeichen des Ballermann den Behörden ein Dorn im Auge. Sie seien die Hauptverursacher des Suffs, so die Vorwürfe vonseiten des Rathauses in Palma. Hier würden die jungen Leute abgefüllt und dann in den öffentlichen Raum gekehrt, wo es dann zu all den unschönen Situationen kommt.

Dabei haben die Clubs die Preise schon so weit angezogen, dass sich viele jüngere Urlauber das Feiern dort eigentlich kaum noch leisten können. Ein Liter Bier kostet im Megapark neuerdings 14,80 Euro, ein halber Liter Wodka Lemon im Bierkönig 12,50 Euro. „Dem Bierkönig oder Megapark kann man nicht vorwerfen, dass sie sich nicht an die Regeln halten“, sagt ein Gastronom, der gleich mehrere Bars und Clubs führt, dessen Name aber nicht genannt werden soll. „Das Problem ist der Strand“, glaubt der Österreicher. „Da greifen die Behörden nicht hart genug durch“. Was er meint, ist weder zu übersehen noch zu überhören. Ende Juni haben sich die Fußball-Vereine an der Playa breitgemacht. Zu erkennen –neben den Trikots – an den zahllosen blauen Eimern voller Bierdosen und Flaschen, die die kleinen Strandreviere der Kicker markieren. Eifrig versorgt werden die meist männlichen Urlauber von den kleinen indischen und pakistanischen Supermärkten an der Playa, die auf Lieferservice umgestellt haben.

Ein Fall für die Soziologie

„Ich würde gerne deutsche Soziologen um Hilfe bitten“, sagt Juan Ferrer von der Qualitätsinitiative Palma Beach. „Irgendwer muss uns dieses Phänomen erklären, wir können es nicht!“ Es klingt ratlos, leicht hilflos. „Hier werden normale Menschen innerhalb kürzester Zeit zu Tieren, und die Behörden und die Polizei schaut sich das an, ohne durchzugreifen“, sagt der Chef des Chalet Siena.

Vergangene Woche gab Ferrers Initiative, der mittlerweile 52 Unternehmen angehören, eine denkwürdige Pressekonferenz. Sie klang wie das Eingeständnis des Scheiterns. Man betrachte die Saison schon jetzt als verloren, hieß es dort. Alle Hoffnung fahren lassen, will Ferrer aber auch nicht. „Die Zeit des Springbreaks der Vereine ist Mai und Juni, ab jetzt kommen viele Familien für die Sommerferien“, sagt er.

Aber noch sind sie da, die Clubs und Teams aus ganz Deutschland. „Wir räumen den Strand am Ende immer auf“, beteuert Toni (25) vom VfB Hilden. Der Verein aus der Nähe von Düsseldorf hat am Ballermann schon Kult-Charakter. Seit Jahren kommen die Vereinsmitglieder als Zwerge verkleidet an die Playa. „Dieses Jahr sind wir 60 Mann und ein Schneewittchen“, erzählt der Torjäger des Vereins.

Polizei durchaus präsent

Auch er findet, dass sich der Ballermann verändert habe, wenn auch auf andere Weise. „Wir waren erst zehn Minuten am Strand, da kam die Polizei und hat uns die Musikbox abgenommen. Zudem sollen wir jetzt 2.000 Euro Strafe zahlen“, sagt er. Dabei sei die Vereinskasse eh schon genug belastet. „Es ist hier alles sehr teuer geworden, mittlerweile überlegen wir ganz genau, wo wir am Abend unser Geld ausgeben.“

Am Ballermann hat es einst alles gegeben, was das kostenorientierte Zecherherz begehrte. Freibier, All-in, Happy Hour, Eimertrinken. Alles mittlerweile verboten, doch Stand jetzt hat das nichts genutzt. Was auch immer die Regierung der Sonderinterventionszone Ballermann verordnete, gesoffen wurde weiter, schneller, lauter.

Der Versuch, aus dem Ballermann einen Strandabschnitt für wohlhabende Touristen zu machen, kann daran bisher nichts ändern. Ein neues System auf einem alten zu erbauen, das noch quicklebendig ist, führt zu Konflikten. Dieser Tage prallen hier gleich mehrere Welten aufeinander: Die alten Ballermänner treffen auf die jungen, party-unerfahrenen Corona-Jahrgänge, die sich vermeintlich schlimmer als jede Generation zuvor benehmen. Die Fünf-Sterne-Touristen aus aller Welt erleben deutsche Fußballvereine, die schon vor anderthalb Jahren kostengünstig gebucht haben und das gleiche vermeintlich hochpreisige Hotel beleben. Die mallorquinischen Gastronomen und Hoteliers, die sich alles so schön vorgestellt haben, müssen nun zuschauen, wie all die Träume von der neuen Playa zertrampelt werden von Horden ausgehungerter Party-People. Und natürlich nicht zu vergessen: die Tausende spanische Abiturienten, die wie üblich in Arenal eine Schneise der Verwüstung hinterlassen.

Danebenbenehmen seit 50 Jahren

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Und so muss auf Mallorca vielleicht einfach akzeptiert werden, dass es da einen kleinen Strandabschnitt gibt, an den Menschen seit 50 Jahren kommen, um nach Herzenslust Party zu machen. Und um sich danebenzubenehmen. So läuft das schließlich seit Generationen. Da gibt es Ausreißer und Aussetzer, die gemeinhin als asozial bezeichnet werden und die das Bild des Suff-Teutonen nach außen massiv verstärken. Doch so lange die ungewollten Gäste, bereit sind, jeden Preis zu zahlen, wird sich an der Playa de Palma rein gar nichts ändern.

Es ist zwei Uhr morgens in der Nacht zum Dienstag, als der junge Mann sich auf die Strandpromenade erbricht. Danach sinkt sein Kopf erschöpft auf die Knie. Nicht weit davon entfernt, haben sich gleich zwei Pärchen am Strand niedergelassen, die unmittelbar mit ihrem Liebesspiel beginnen. Passanten beobachten die Szene. Einer sagt: „Siehste, Mallorca ist doch immer eine Reise wert.“ Er öffnet eine Bierdose und glotzt auf die Szene. „Ich glaube, das nennt man Erlebnisurlaub.“