Ukraine-Krieg, Energiepreisschock, Inflation – die Sorgen um die Wirtschaft in Europa sind derzeit enorm. „Zeitalter der Extreme – wir suchen nach Lösungen“ heißt denn auch eine Veranstaltung am 30. September im Castillo Hotel Son Vida in Palma, zu der die Plattes Group hochkarätige Referenten erwartet. Unter ihnen ist Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, die Schweiz, Österreich und Osteuropa des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock. Die Mallorca Zeitung hat vorab mit ihm telefoniert.

Stehen wir am Vorabend der schlimmsten Wirtschaftskrise seit vielen Jahren?

Das kommt natürlich auf den Vergleich an. Die letzte große Krise war Corona, davor die Finanz- und Bankenkrise. Jetzt ist vor allem die Politik gefordert, die sich aus dem Energiepreisschock ergebenden Belastungen abzufedern. Wir sehen, dass sehr viele Unternehmen gerade große Schwierigkeiten haben, mit den Kosten fertigzuwerden. Und sie können diese nicht an die Verbraucher weitergeben, da diese auch schauen müssen, wo sie das Geld herbekommen, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Die Frage wird also vor allem sein, ob das Gas knapp wird. Und das hat damit zu tun, wie kalt der Winter wird, das könnte Unterschiede von 20 bis 30 Prozent ausmachen.

Spanien bezieht nur wenig Gas aus Russland, zudem gilt ein Limit für den Gaspreis. Kann das Land leichter eine Rezession verhindern?

Das ist natürlich eine deutlich entspanntere Situation. Deutschland hatte Anfang des Jahres noch 55 Prozent seiner Gasimporte aus Russland bezogen. Da im Moment nur noch winzige Mengen durch die Pipelines kommen, sind wir in einer deutlich schwierigeren Situation im Vergleich zu Spanien.

"Um es ganz hart zu sagen: Die soziale Schieflage ist womöglich eine Chance für Mallorca zum Schritt in einen höherwertigen Tourismus."

Sollte der Ukraine-Krieg nun doch schnell beendet werden – welche wirtschaftlichen Konsequenzen würden sich daraus ergeben?

Selbst nach einem ukrainischen Sieg – den ich natürlich erhoffe, aber noch lange nicht sehe – würden die wirtschaftlichen Konsequenzen noch lange andauern. Es ist bekannt, welch schwere Kriegsverbrechen die russische Armee begangen hat, es gibt Hunderte Milliarden Reparationsforderungen, die die Ukraine berechtigterweise gegen Russland stellen wird. Die Frage ist, wann die Sanktionen überhaupt aufgehoben werden können, wenn Russland in einem solchen Fall diese Forderungen ablehnen und Kriegsverbrechen nicht anerkennen wird. Russland hat sich durch diesen bewussten Angriffskrieg aus der Familie der zivilisierten Völker verabschiedet. Es wird eine Weile dauern, bis es so weit rehabilitiert werden kann, um die Sanktionen aufzuheben.

Die Folgen gestörter Lieferketten bekommt Mallorca besonders zu spüren, weit über 90 Prozent der benötigten Produkte werden importiert. Ist die Neujustierung der Globalisierung auch eine Chance für die Insel?

Es ist auch eine Chance, nicht nur im Kontext der Insel, sondern auch für ganz Spanien oder andere EU-Länder. Die Globalisierung, zumindest so wie wir sie kannten, ist an ihr Ende gekommen. Bereits zu Anfang der Pandemie, als die Container aus China ausblieben, haben in Umfragen etwa drei Viertel der Unternehmen gesagt, dass sie künftig auf jeden Fall einen Plan B haben wollen, Lieferbeziehungen, die näher an der Heimat sind. So ein Plan B bedeutet für alle, dass die Kosten steigen. Für eine Insel, die ohnehin sehr stark davon abhängig ist, aus verschiedensten Quellen Importe zusammenzusuchen, ist das eventuell ein relativer Vorteil. Es wird für alle schwerer und teurer. Aber Mallorca hatte es schon vorher schwerer als die anderen.

Die Balearen-Wirtschaft steht derzeit vergleichsweise gut da, nicht zuletzt wegen der starken Tourismussaison. Wie wahrscheinlich ist ein Schwinden der Reiselust angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen?

An Mallorca denken Deutsche und andere Europäer mit als Erstes, wenn sie einen Urlaub planen. Viele Haushalte werden sich weniger leisten können, die deutlich höheren Energiekosten verdrängen andere Ausgabeposten – ein soziales Phänomen, das die mittleren und niedrigen Einkommen stärker treffen wird. Andererseits ist Mallorca bemüht, hochwertigen Tourismus anzubieten, also die gleiche Wertschöpfung mit weniger Touristen zu generieren. Unterm Strich dürften sich diejenigen Mallorca nicht mehr leisten können, die ohnehin billig gebucht hätten. Um es ganz hart zu sagen: Die soziale Schieflage ist womöglich eine Chance für Mallorca zum Schritt in einen höherwertigen Tourismus.

Und ein Ferienhaus auf Mallorca bleibt die liebste Investition der Deutschen?

Die Idee hatten meine Frau und ich auch öfters, wenn wir von der Insel kamen. Der Energiepreisschock trifft Haushalte, die sowieso nicht die typische Käuferschicht sind. Ein wichtiger Punkt ist zudem der demografische Wandel in Deutschland: In den kommenden zehn Jahren werden wir eine massive Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge sehen. Viele dieser Menschen sind gut situiert, erben, und so einige werden durchaus erwägen, eine Immobilie auf Mallorca als Altersruhesitz zu kaufen. Die steigenden Zinsen dürften kaum Auswirkungen haben, da die Käufe in der Regel nicht fremdfinanziert werden. Bei der Frage aber, ob die Preise weiter so steigen wie in den vergangenen Jahren, wäre ich vorsichtig.

Sie kritisieren, dass die Europäische Zentralbank mit der Anhebung der Leitzinsen spät auf die Inflation reagiert hat. Im August waren es in Spanien 10,4 Prozent im Jahresvergleich. Was kommt da noch auf uns zu?

Das hängt stark davon ab, wie viel Gas zur Verfügung steht. Bleibt der Winter mild, dürften wir das Plateau erreicht haben. Wir sehen auch entspannende Effekte bei den Lieferketten und deutlich niedrigere Rohstoffpreise in Erwartung einer weltweiten Rezession.

Was erwarten Sie jetzt von der EZB?

Sie hätte ähnlich wie die US-Notenbank ein halbes Jahr früher die Zinsen anheben können, dann hätte man vor der Hauptauswirkung der Energiepreisschocks erste Schritte eingeleitet. Jetzt wirkt die EZB wie ein Getriebener und muss analysieren, wie stark die Rezession automatisch dafür sorgen wird, dass die Nachfrage und letztendlich die Inflation zurückgeht, oder wie viel sie nachhelfen muss durch sehr präzise Geldpolitik.

Auf dem Forum Neu Denken im Juni auf Mallorca haben Sie vor den gesellschaftlichen Verwerfungen der Inflation gewarnt.

Das ist ein sehr großes Risiko. In der Politik ist noch nicht angekommen, wie gefährlich das ist. Inflation ist extrem ungerecht, sie trifft die unteren Einkommen viel stärker als die oberen. Familien mit Durchschnittseinkommen müssen mehrere 1.000 Euro mehr pro Jahr für Energie aufwenden. Das ist politischer Sprengstoff. Die richtige Antwort ist eine Entlastung, aber nicht per Gießkanne wie bei der Energiepauschale von 300 Euro. Manche Haushalte brauchen das Vielfache davon, andere brauchen sie gar nicht. Solche Hilfen müssen an Einkommen oder Vermögen gekoppelt werden, auch wenn das komplizierter ist.

Was bedeutet der Energiepreisschock für Investitionen in die Nachhaltigkeit?

Auch wenn dieses Jahr die Erzeuger fossiler Energieformen am besten verdient haben, wirkt dieser Energiepreisschock wie ein Katalysator, dass wir uns von sterbenden Energien – und das sind die fossilen und die Atomkraft – abwenden und mit noch mehr Energie in die nachhaltigen investieren müssen. Das wird zu steigenden Kosten führen – bis die Kapazitäten so weit ausgebaut sind, dass Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht kommen.