Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux wird in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Das gab die Schwedische Akademie am Donnerstag in der Altstadt von Stockholm bekannt. Die 82-Jährige bekomme den Preis "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt", sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Bekanntgabe.

Ernaux glaube an die befreiende Kraft des Schreibens, hieß es von der Akademie. Sie schreibe kompromisslos und in klarer, sauberer Sprache. Mit großem Mut und klinischer Schärfe offenbare sie die Qual der Klassenerfahrung und beschreibe unter anderem Scham, Demütigung und Eifersucht.

Telefonisch erst nicht zu erreichen

"Wir haben es noch nicht geschafft, Annie Ernaux telefonisch zu erreichen", merkte Malm bei der Bekanntgabe an. Sie erfuhr erst kurz darauf durch einen Anruf der schwedischen Nachrichtenagentur TT von der Auszeichnung, wie die Agentur berichtete. "Nein! Wirklich?" sagte sie nach TT-Angaben. "Ich habe heute Morgen gearbeitet und das Telefon hat die ganze Zeit geklingelt, aber ich bin nicht dran gegangen", sagte sie demnach und ergänzte: "Ich höre es jetzt die ganze Zeit klingeln."

Zweimal auf Mallorca

Ernaux hat gleich eine zweifache Verbindung zu Mallorca. Im Jahr 2019 erhielt sie den renommierten Formentor-Preis für ihr literarisches Schaffen. Sie war die erste Frau, die diese Auszeichnung erhielt.

Im Sommer 2022 kam sie zum Atlàntida Film Festival. Dort präsentierte sie ihren autobiografischen Film "The Super 8 Years". Zusammen mit ihrem Sohn hatte sie aus ihren Familienaufnahmen aus den Jahren 1972 bis 1981 einen Film gemacht. Aus dem Off verbindet ihre Stimme darin die familiären Szenen mit einem Reisetagebuch aus einer aufgewühlten Zeit: Frankreich nach der Studentenrevolte, Chile nach dem Staatsstreich, die Sowjetunion kurz vor ihrem Zerfall.

Heiße Kandidatin auf den Preis

Die Französin wurde vor der Preisbekanntgabe von mehreren Literaturexperten zum engen Favoritenkreis gezählt. Der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck hatte sie als seine große Favoritin auf dem Zettel gehabt. Es handle sich um einen "Festtag für die Literatur", sagte er am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. Sowohl in ästhetischer als auch in politischer Hinsicht sei die diesjährige Entscheidung "eine beglückende Wahl".

Der Nobelpreis für Literatur gilt als die prestigeträchtigste literarische Auszeichnung der Welt. Auf der sogenannten Longlist für den Preis standen in diesem Jahr 233 Kandidaten - welche Namen darunter sind, wird alljährlich streng geheim gehalten.