Ein Hofstaat aus bizarren Gestalten bevölkert Mitte Oktober den ehemaligen Wasserspeicher Aljub des Es Baluard. Und kein Geringerer als Robert Wilson hat ihnen den Platz zugewiesen: Der 1941 in Texas geborene, vielfach preisgekrönte Regisseur und multidisziplinäre Künstler zeichnet für das Stück „Ubu“ verantwortlich, das auf Mallorca Weltpremiere feiern wird.

Wilson ist weltweit eine der herausragendsten Figuren des Gegenwartstheaters. Er inszeniert gefeierte Produktionen an allen wichtigen Häusern, lässt eindrucksvolle Bildwelten entstehen und ist für seinen unkonventionellen Einsatz verschiedenster künstlerischer Mittel bekannt – ebenso wie für seinen Perfektionismus. Die Museumsdirektorin Imma Prieto sieht darin jedoch nur Vorteile: „Ich fühle mich sehr wohl mit dieser Art von hohem Anspruch“, erklärt sie beim MZ-Gespräch und schwärmt vom fruchtbaren Dialog und von der Großherzigkeit des 81-Jährigen.

Eine Bühne wie gemalt

Für Prieto ist Wilson mehr Künstler als klassischer Theaterregisseur. Nun, da sie ihn beim Arbeiten gesehen und bei den Proben erlebt habe, umso mehr: „Er malt die Bühne mit der Beleuchtung, dem Klang und den sich bewegenden Körpern – so feinsinnig wie ein Künstler. Es ist wunderbar, ihn dabei zu beobachten“, sagt sie. Der Regisseur mache stets Millimeterarbeit. „Es sieht aus, als ob ein japanisches Aquarell entsteht.“ Lichteffekte, Farben und Abstände: Aus all dem erschaffe Wilson ein akribisch komponiertes Gesamtkunstwerk.

Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum Prieto sich ausdrücklich Wilson für das Projekt wünschte: Er ist ein Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts. „Ich wollte jemanden, der sich sehr stark darüber bewusst ist, was der Zweite Weltkrieg bedeutete“, erklärt sie. Tatsächlich muss man sogar zwei Sprünge in die Vergangenheit unternehmen, um den Kontext von „Ubu“ und seiner Neuschöpfung zu verstehen.

Von Ubu bis Putin

Das ursprüngliche Stück „König Ubu“ (Ubu roi) des französischen Schriftstellers Alfred Jarry, das 1896 uraufgeführt wurde, sorgte seinerzeit für einen Skandal und wurde von Surrealisten und Dadaisten bejubelt. Seine Hauptfigur: ein machtbessener, primitiver und gefräßiger Usurpator, der den polnischen Thron erobert und das Volk tyrannisiert.

Die Bedeutung von Jarrys Originaltext läge darin, dass er mit der Beschreibung einer wilden, grotesken, despotischen Figur visionär und seiner Zeit voraus war, sagt Prieto: „Ubu symbolisiert den Diktator – noch bevor Franco, Hitler oder Mussolini auf der Bildfläche erschienen.“ Das Werk sollte noch lange nachwirken – und gerade Joan Miró habe sich damit, als Konzept und Studienfeld, immer wieder beschäftigt, sagt die Museumsdirektorin.

In den 30er-Jahren lebte der Künstler in Paris und legte sich dort eine Erstausgabe von „König Ubu“ zu, die ihn fortan begleiten sollte. In einem Zeitraum von rund 30 Jahren entwickelte Miró seine ganz eigene Ikonografie zum Ubu-Universum. Diese Bildwelt hielt er in drei Büchern fest, die für Prieto Schlüsselwerke der Es-Baluard-Sammlung sind: „Ubu roi“ (1966), „Ubu aux Baléares“ (1971) und „L'enfance d'Ubu“ (1975). In den 70er-Jahren schöpfte Miró aus seinem eigenen Material, um mit Joan Baixas von der Kompanie La Claca die Theateradaptation „Mori el Merma“ zu entwickeln, mit lebensgroßen Marionetten – und einer klaren Referenz zu Franco. 1978 wurde die Inszenierung im Teatre Principal in Palma aufgeführt.

Als das Projekt am Es Baluard vor zwei Jahren begann, gab es den Krieg in der Ukraine noch nicht. Heute ist das Thema „Ubu“ laut Prieto aktueller denn je, die Figur ein Symbol: „Es gibt viele Ubus: Man kann sie Putin nennen oder Trump.“ Der Kern des Charakters: die Grausamkeit und Gewalt, stets gepaart mit Lächerlichkeit und Mittelmäßigkeit.

Stille und Provokation

Joan Miró hatte einst Alfred Jarry neu interpretiert. Robert Wilson nahm beide als Ausgangspunkt und schuf daraus etwas Neues. Zunächst war er beauftragt worden, ein Klangstück für die Ausstellung zu schaffen: „Ubu Sounds the Alarm“, das nun die Marionetten, die nie als Skulpturen gedacht waren, lebendiger werden lässt. Dann sollte eigentlich eine rund zehnminütige Performance folgen. Doch Wilson war Feuer und Flamme, das Projekt uferte aus: Am Ende wurde daraus ein Theaterstück, das eine knappe Stunde dauert – und das im kommenden Jahr auch beim Kunstfest Weimar aufgeführt wird. Der Fokus liegt klar auf dem Visuellen: Die Schauspieler sprechen nicht selbst auf der Bühne, der einzige Text wurde zuvor aufgenommen, mit den Stimmen von Wilson selbst und den Darstellern – auch Imma Prieto durfte für diesen Part einsprechen.

„Das ist keine Oper für das Odéon in Paris, sondern eine Theateraktion mit einem viel kleineren Budget. Sie wird hauptsächlich mit lokalen Künstlern, Schauspielern und Technikern umgesetzt“, betont Prieto. Joan Baixas, der schon damals die Originale gefertigt hatte, schuf eigens für das Stück Repliken von Mirós Marionetten: Sie tauchen in einem Prolog in fünf Akten auf. Die Ästhetik der jetzigen Kostüme und des Bühnenbilds sind jedoch eine Neuschöpfung. Dass dabei Zeitungspapier zum Einsatz kam, hat vor allem finanzielle Gründe, denn das Material war günstig. Doch der Effekt ist spektakulär: Die Bühnencharaktere wirken wie Kreuzungen aus surrealistischen Schachfiguren und Walter Moers Schattenkönig. „Robert Wilson hat die Fähigkeit, mit diesem ‚Blattgold‘ zu arbeiten, dessen Informationen uns helfen, unsere Gegenwart zu verstehen“, sagt Prieto.

Auch sonst analysiert Robert Wilson in einer zeitgenössischen Sprache, wie grundlose Gewalt und unersättliche Gier immer noch Gültigkeit haben. Der US-Amerikaner verankert das Thema in der heutigen Zeit, indem er etwa Elemente einfügt, die mit Wirtschaft, Märkten, Bankenwesen, Geld und Armut zu tun haben. Auch ein beliebtes Stilmittel des Regisseurs kommt zum Einsatz: Momente der völligen Stille, die unter die Haut gehen. Sicher ist: Es wird für das Publikum nicht bequem. „Schon für Alfred Jarry war Provokation das Mittel, die Gesellschaft aus ihrem Schlaf zu rütteln“, sagt Imma Prieto.