440.000 Opfer von sexuellem Missbrauch durch Priester in Spanien – Kirche spricht von "Lüge"

1,13 Prozent der spanischen Bevölkerung war bereits Opfer von Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen, so eine neue offizielle Studie. Die Bischöfe halten das für maßlos übertrieben. Viele von ihnen mauern aber weiter

440.000 Opfer bringen Kirche in Erklärungsnot

440.000 Opfer bringen Kirche in Erklärungsnot

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Vor über zwanzig Jahren deckte eine Recherche des „Boston Globe“ in den USA massive Fälle von Misshandlungen in der katholischen Kirche auf. Seither haben die Kirchen in vielen Ländern der Welt dieses düstere Kapitel aufgearbeitet, sich bei den Opfern entschuldigt und sie entschädigt. Als eines der letzten großen katholischen Länder beginnt Spanien erst seit Kurzem damit. Noch 2021 behauptete die Bischofskonferenz, Missbrauchsfälle gebe es in Spanien „keine oder sehr wenige“. Heute sprechen die Bischöfe selbst von mehr als 1.000 bekannten sexuellen Übergriffen.

Doch wie hoch ist die Zahl der Opfer tatsächlich? Ein am Freitag (27.10.) vorgestellter fast 800-seitiger Bericht des spanischen Ombudsmannes Ángel Gabilondo befeuert die Kontroverse neu. Die Erkenntnis, die für die größte Aufmerksamkeit gesorgt hat, ist die Schätzung, wonach 1,13 Prozent der spanischen Bevölkerung von Geistlichen oder in kirchlichen Einrichtungen sexuell missbraucht wurden. Der Bericht stützt sich auf Angaben der Bistümer, Interviews und eine Umfrage mit 8.000 Teilnehmern.

Kirche spricht von "Lüge"

Gabilondo nennt bewusst keine absolute Opferzahl und weigerte sich auf der Präsentation, diese Frage zu beantworten. Er lud die Journalisten jedoch dazu ein, selbst zu rechnen. Und so kamen die Medien auf 440.000 Geschädigte – der auf die heutige Gesamtbevölkerung umgelegte prozentuale Anteil. Das ist eine ungeheuerliche Zahl, die von der Kirche entschieden zurückgewiesen und als „Lüge“ bezeichnet wird. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Juan José Omella, gab über soziale Medien die Zahl von 1.125 „Fällen“ an, ohne Details zu nennen, etwa ob es sich dabei um Opfer oder Täter handelt. Zudem hinterfragen die Bischöfe die Methodik und Seriosität des Berichts.

Fest steht: Das Dokument wirft kein gutes Licht auf die Institution. Der Kirche wird mangelnde Kooperation und Verschleierung vorgeworfen, wobei es große Unterschiede zwischen den 70 Diözesen und mehr als 400 Orden gibt. „Nicht alle Bischöfe haben mitgeholfen, und einige haben mit uns gestritten“, berichtete Gabilondo. Die Archive der Kirche sind laut einem Abkommen mit dem Vatikan vor dem Zugriff des Staates geschützt. Das erschwert juristische Ermittlungen und journalistische Nachforschungen. Jede Diözese bestimmte selbst, welche Daten sie an den Ombudsmann gab. Unter den Bistümern, die im Bericht als besonders unkooperativ genannt werden, sind Menorca und Ibiza. Generell sind die gesammelten Daten mangelhaft, Namen oder selbst Kürzel zur Identifizierung der Personen fehlen. „Die Datenerfassung ist kompliziert“, verteidigte sich Kardinal Omella.

So ist die Lage in anderen Ländern

In anderen Ländern scheint das anders zu sein, und die dortigen Kirchen wirken entschlossener bei der Aufarbeitung. Die Methodik variiert jedoch stark. In Frankreich kam man anhand der Extrapolation der Daten auf 330.000 Opfer sexueller Übergriffe. In Portugal berechnete eine unabhängige Kommission im Februar auf Grundlage von 512 Interviews 4.815 Opfer. Eine Studie der Deutschen Bischofskonferenz von 2018 nannte mindestens 1.670 Täter und 3.677 Opfer. Von den 2.400 Teilnehmern einer Umfrage gaben 3,1 Prozent an, missbraucht worden zu sein.

Die Fälle auf Mallorca

Trotz der dürftigen Kooperation vieler kirchlicher Institutionen listet der Bericht 780 Orte auf, wo es erwiesenermaßen Missbrauch gegeben hat, etwa Pfarrgemeinschaften, Ordensgemeinschaften oder kirchliche Schulen. Davon befinden sich 18 auf den Balearen, darunter die Gemeinden Sant Sebastià und Cristo Rey in Palma, Santa Maria de Portals in Calvià, Asunción de María in Can Picafort, die Pfarrgemeinde von Cala Ratjada sowie die Schulen La Salle und Montesión. Mallorca ist eine von nur sieben Diözesen in Spanien, die laut des Berichts überhaupt schon einmal eine Entschädigung an die Opfer gezahlt haben.

Das soll sich nach dem Willen Gabilondos ändern. Er schlägt einen Entschädigungsfonds vor, an dem sich Staat und Kirche beteiligen sollen. Die Bischofskonferenz lehnt die Idee ab. Sie will sich stattdessen nur an einem Fonds beteiligen, der alle Opfer von sexuellen Übergriffen in der Gesellschaft entschädigt. Der Bericht schätzt, dass 11,7 Prozent der Spanierinnen und Spanier von wem auch immer begangene Übergriffe erfahren hat, größtenteils im familiären Umfeld. „Es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem, das es auch innerhalb der Kirche gab“, so der Sprecher der Bischofskonferenz, César García-Magán. Die Kirche wartet nun auf die Fertigstellung einer Studie, die sie 2022 bei der Anwaltskanzlei Cremades & Calvo-Sotelo in Auftrag gab und die eigentlich schon erschienen sein sollte. Das verhinderten offenbar Diskussionen zwischen der Kanzlei und den Bischöfen. Nun kam Gabilondo der Kirche zuvor.

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