Vergewaltigungen: Fast jede siebte Frau in Deutschland wird zum Opfer

Sexuelle Gewalt wird oft verharmlost. Nur ein Bruchteil der Fälle wird juristisch geahndet. Woran liegt das?

Eine Demonstration am 8. März, dem Weltfrauentag, in Lugo (Galicien). | FOTO: ELISEO TRIGO/EFE

Eine Demonstration am 8. März, dem Weltfrauentag, in Lugo (Galicien). | FOTO: ELISEO TRIGO/EFE / Isa Hoffinger

Isa Hoffinger

Es ist wieder passiert. Eine Gruppe von Männern soll auf Mallorca eine Frau vergewaltigt haben. Natürlich ist so eine Tat, unabhängig davon, dass wir nach derzeitigem Erkenntnisstand noch viel zu wenig wissen, um diesen Fall vernünftig bewerten zu können, überall auf der Welt entsetzlich. In Spanien ist das Interesse daran besonders groß, weil hier, nach einer Reihe von Gruppenvergewaltigungen, im Jahr 2022 das Sexualstrafrecht verschärft wurde.

Nötigung wurde härter bestraft

Viele Menschen ziehen nun eine Parallele mit dem Fall von Pamplona. Im Juli 2016 fiel eine Gruppe von Männern, die sich selbst „La Manada“ (Das Rudel) nannte, während der San-Fermín-Feiern über eine Frau her und zerrte sie in einen Hauseingang. Die Männer vergewaltigten die Frau mehrfach und filmten das auch. Zwei Gerichte in der Region Navarra sahen den Tatbestand der Vergewaltigung damals als nicht gegeben an, weil es, wie es im Urteil von 2018 hieß, „weder Schläge noch Drohungen“ gegeben habe.

Nach Protesten revidierte Spaniens Oberster Gerichtshof die Entscheidung und verurteilte die Männer zu 15 Jahren Haft wegen sexueller Nötigung, auf die zu diesem Zeitpunkt höhere Strafen standen als auf sexuellen Missbrauch. In Spanien wurde zwischen verschiedenen Sexualstraftaten unterschieden. Waren weder Gewalt noch Einschüchterungen im Spiel, fielen die Strafen geringer aus. Das galt auch, wenn der Täter einer Frau K.-o.-Tropfen verabreichte und es ihr nicht möglich war, „Nein“ zu sagen.

Nur die Zustimmung zählt

Dann reformierte die spanische Regierung das Sexualstrafrecht. „Nur ein Ja ist ein Ja“ lautete von Oktober 2022 an der Kernsatz des neuen Gesetzes: Einzig ein „Ja“ zum Sex war nun entscheidend, alles andere galt fortan als Vergewaltigung. Das Problem war: Während Vergewaltigung härter geahndet wurde, wurden die Strafen für andere Sexualtatbestände teilweise herabgesetzt. Mehr als 70 Täter kamen vorzeitig frei. Bei mehr als 700 wurden die Strafen verkürzt. Die Verantwortlichen hatten versäumt, mit einer Übergangsklausel (disposición transitoria) dafür zu sorgen, dass die Reform zu keiner rückwirkenden Strafminderung führte. Nach erneuten Diskussionen einigten sich die Politiker darauf, dass die Zustimmung der Frau das entscheidende Kriterium bleiben sollte. Die Beweislast für die Gewaltanwendung dürfe nicht länger beim Opfer liegen, hieß es.

Ist Mallorca sicher?

Die Reaktionen in Deutschland auf die mutmaßliche Tat an der Playa de Palma in der Nacht zum 14. Juli 2023 sind unterschiedlich. „Ist Mallorca sicher?“, fragen die einen. „Wer waren die Täter?“, wollen die anderen wissen. Die meisten Stimmen sind täterzentriert oder sorgen sich um ihre eigenen Urlaubsfreuden. Andere betroffene Frauen melden sich nicht zu Wort, und die Medien fragen sie auch selten, wie es ihnen angesichts solcher Meldungen geht. Psychologen wissen, dass die Gefahr einer Retraumatisierung nach dem Bekanntwerden neuer Taten für Gewaltopfer groß ist.

Fast jede siebte Frau in Deutschland war nach Angaben der Organisation „Terres des Femmes“ schon von sexualisierter Gewalt betroffen, wobei Gewalt hier Vergewaltigungen, versuchte Vergewaltigungen sowie Formen von sexueller Nötigung meint. 13 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt erlebt. Rund 25 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen ist Gewalt durch aktuelle oder frühere Partner widerfahren. Nur fünf Prozent schaffen es, sich juristisch zu wehren, aus Angst, nicht genug Beweise zu haben.

Victim Blaming ist weit verbreitet

Die Sorge, vor anderen als Lügnerin dazustehen, ist durchaus begründet. Unser Gehirn versucht, Taten zu verleugnen oder umzudeuten, wenn wir sie nicht begreifen können. Victim blaming ist in der Gesellschaft weit verbreitet. Solche Opferbeschuldigungen klingen etwa so: „Aber die Frau hatte ein zu kurzes Kleid an.“ Oder: „Selbst schuld, wenn sie mit ins Hotel geht.“ Auch im Fall des Rammstein-Sängers Till Lindemann, der sich an Fans vergangen haben soll, war so etwas in den sozialen Medien zu lesen.

Proteste gegen ein Rammstein-Konzert am 15. Juli in Berlin.

Proteste gegen ein Rammstein-Konzert am 15. Juli in Berlin. / Fabian Sommer/dpa

Verbrechen passieren im häuslichen Umfeld

Um „Ja“ sagen zu können, muss die Person Grenzüberschreitungen als solche erkennen. Sobald eine als Gewalt empfundene Tat durch das Umfeld ignoriert, toleriert oder bagatellisiert wird, wird die von sexueller Gewalt betroffene Frau das eigene Empfinden verdrängen oder verharmlosen. Auch darum sind scharfe Gesetze nötig; sie tragen dazu bei, dass mehr Menschen sich mit der Frage befassen, was Gewalt überhaupt ist.

Ein wenig hilfreicher Aspekt ist der Verweis auf einen „Migrationshintergrund“ mutmaßlicher Täter. Assoziationen zur Kölner Silvesternacht 2015 stellen sich da ein, damals war es zu zahlreichen Übergriffen gekommen, auch von Männern nordafrikanischer Herkunft. Woher die Täter kommen ist für Opfer unerheblich, es sei denn, Angehörige missbrauchen Frauen, dann ist die Gefahr, dass Opfer die Täter schützen, größer als sonst.

Laut polizeilicher Statistik passieren etwa 60 Prozent der Angriffe im häuslichen Umfeld. Die Täter sind in der Mehrzahl keine psychopathischen Fremden, die nachts im Park hinter Büschen lauern, auch keine exotischen Wilden, sondern größtenteils deutsche Partner, Ex-Partner oder Bekannte. Ob es bei Alkoholkonsum zu mehr Taten kommt, ist nicht nachweisbar, auch wenn es bei bestimmten Anlässen, etwa beim Oktoberfest, gehäuft zu Anzeigen kommt.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer tanzen am 14.2.2023 auf der Tanzdemonstration «One Billion Rising» auf der Hauptwache in Frankfurt am Mai. Die weltweite Demonstration richtet sich gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer tanzen am 14.2.2023 auf der Tanzdemonstration «One Billion Rising» auf der Hauptwache in Frankfurt am Mai. Die weltweite Demonstration richtet sich gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen. / Sebastian Gollnow/dpa

Mehr Anzeigen in Deutschland

Was sich an den Zahlen ablesen lässt, ist, dass es mehr Anzeigen gibt. In Deutschland, nicht auf Mallorca. Im Jahr 2022 gab es in Deutschland 12.004 offizielle Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen. Allein in Nordrhein-Westfalen zählten die Beamten im Schnitt acht Vergewaltigungen pro Tag, 2.949 Vergewaltigungen waren es laut dem Landesinnenministerium 2022, das sind 600 Fälle mehr als noch 2021.

In der deutschlandweiten Statistik wurden 11.896 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellem Übergriff erfasst – das ist ein Plus von rund 20 Prozent, 2021 waren es noch 9.903 Fälle. Angesichts der Dunkelziffer ist unklar, ob es mehr Fälle gibt oder sich nur mehr Frauen trauen, Anzeige zu erstatten.

Schlimmstenfalls endet eine Tat mit dem Tod einer Frau. 2017 fielen weltweit 1,3 von 100.000 Frauen einem Femizid zum Opfer. Die Vereinten Nationen etablierten nach schockierenden Berichten südamerikanischer Aktivisten einen Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, er findet am 25. November statt. Ob das hilft, ist fraglich. Was es bräuchte wäre die Unterstützung von möglichst vielen Männern, die sich öffentlich und in Gesprächen mit ihren Freunden klar gegen sexualisierte Gewalt aussprechen.