Der verlorene Sohn

Den Staffelstab der Familie wollte er auf keinen Fall übernehmen. Nur raus, weg von hier, weg aus Cruces, einer öden Kleinstadt irgendwo in der Provinz Toledo. Weg von der Gluthitze im Sommer und weg von der Langeweile und Perspektivlosigkeit. Juan verkracht sich mit seinem Vater, er will die Fabrik für billige Pressspan-Türen nicht übernehmen und flieht mit einer Lüge ins schottische Edinburgh. Denn statt eines Stipendiums ist der studierte Forstwirt nur als Tellerwäscher unterwegs.

Der Kontakt zur Familie wird auf ein Minimum begrenzt. Als der Vater an seiner Asbestlunge stirbt, ist Juan weit weg – geografisch und auch in Gedanken. Eine Woche will er da sein zur Beerdigung, dann schnell wieder weg. Doch es soll anders kommen. Die Mutter ist an Alzheimer erkrankt, die Schwester Isabel, die sich all die Jahre aufgeopfert und mit Vorwürfen an den Bruder nicht gespart hat, muss beruflich in die USA ziehen. Auf einmal ist es an Juan, sich der Verantwortung zu stellen. „Die Mutter neben ihm, eingefallen, klein geworden durch die eigene Trauer. Ihre Nähe ist ein schwarzes Loch, das seine Energie frisst.“

So beschreibt Jesús Carrasco, 1972 in Badajoz geboren, die Ausgangslage. Juan sträubt sich, doch allmählich wächst er in seine neue Rolle hinein. Er renoviert den alten roten R4, fährt die Mutter zum Arzt, ordnet die Dinge – und beginnt sein Herz zu öffnen. „Bring mich nach Hause“ ist ein zugänglicher, leider auch zuweilen etwas wenig überraschender Roman über Streit und Aussöhnung, über zerrissene Familien, über das Erwachsenwerden, über das Spanien der Wirtschaftskrise (er spielt im Jahr 2010) und über die Bedeutung von Herkunft und Heimat.

Jesús Carrasco. „Bring mich nach Hause“. Roman. Aus dem Spanischen von Silke Kleemann. Eichborn Verlag, Frankfurt, 2022. 288 Seiten, 23 Euro.

Jesús Carrasco: "Bring mich nach Hause"

Jesús Carrasco: "Bring mich nach Hause" Verlag

Der Chronist Barcelonas

Wer einmal mit Miqui Otero, dem 1980 in Barcelona geborenen Romanautor und Schriftsteller, bei Meeresfrüchten und Bier beisammensaß, der hat einen zugewandten, lustigen und sehr unterhaltsamen Menschen kennenlernen dürfen. Unterhaltsam ist auch „Simón“, der Roman, mit dem Miqui Otero 2020 den Durchbruch in Spanien geschafft hat.

Es geht um den gleichnamigen kleinen Jungen, der in einer Malocher-Kneipe galicischer Immigranten in Barcelona aufwächst, der von seinem Cousin und dessen Freundin ins wilde, wahre Leben, in die Literatur und Popkultur eingeführt wird und der sich sein Leben lang durchbeißen muss.

Das Scheitern und Wiederaufstehen durchziehen den Roman, die vielversprechende Karriere als junger Spitzenkoch findet ein jähes Ende. Als Erwachsener blickt er zurück: „Es war keine gute Idee, sein ganzes Leben an Refrains und Büchern auszurichten, okay, aber wer nicht begriff, dass ein Leben ohne sie noch viel schlimmer wäre, war nicht zu retten.“ Der Roman beginnt im Jahr 1992, als die Olympischen Spiele Barcelona zu einer pulsierenden Metropole machten und als die Ära des Massentourismus und der Gentrifizierung eingeläutet wurde, und endet mit den islamistischen Attentaten 2017.

„Das waren zwei Schlüsselereignisse, danach war in der Stadt alles anders als zuvor,“ sagt Miqui Otero, den spanische Medien bereits zum „Chronisten von Barcelona“ ausgerufen haben. Und neben der schönen Geschichte um den kleinen Don Quijote Simón ist dieses Buch auch ein wunderbarer Streifzug durch diese immer noch wunderbare Stadt.

Miqui Otero. „Simón“. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Klett-Cotta, Stuttgart, 2022. 448 Seiten, 25 Euro.

Vier Leseempfehlungen

Vier Leseempfehlungen

Solidarität und Verzweiflung

Nein, es ist kein gutes Gefühl, fast blank zu sein. Und das nach vielen Jahren harter Arbeit. Doch die Umstände meinten es damals, im Spanien Ende der 1960er-Jahre, nicht gut mit Frauen wie María. Sie wird verstoßen von ihrer Familie aus der Provinz, denn sie hat sich als Teenager eine Schwangerschaft eingehandelt. Eine Schande.

In Madrid schlägt sich María als Haushälterin bei einer reichen Familie durch, geht putzen und feiert mit ihren kommunistischen Genossen das Ende des Franco-Regimes. Die Tochter bleibt im Dorf und wird von den Großeltern großgezogen. Der Kontakt ist nur sporadisch, und dass María Jahrzehnte später Großmutter der kleinen Alicia wird, erfährt sie nur beiläufig.

Auch Alicia, inzwischen eine junge Frau, verschlägt es nach dem Suizid ihres Vaters, der sich als Unternehmer verhoben hat und Opfer der Wirtschaftskrise wurde, nach Madrid. Sie hatte eine verwöhnte Kindheit, muss sich nun aber mit schlecht bezahlten, unwürdigen Jobs durchschlagen. „Sie hatte kein Vergnügen an ihrem Leben, doch ihr Leben lenkte sie ab“, beschreibt Elena Medel in ihrem in Spanien zu Recht gefeierten Debütroman diese Tristesse.

In „Die Wunder“ erzählt Medel zum einen eindringlich und überzeugend die beiden Biografien von Großmutter und Enkelin. Hoffnung, Solidarität, Verzweiflung. Am Ende des Buches begegnen sich beide sogar am Rande einer Demonstration, doch sie ahnen nur, was sie verbindet. Zum anderen ist der Roman eine schonungslose Chronik der jüngeren spanischen Geschichte aus der Perspektive von Frauen aus der Arbeiterklasse. Interessant und anrührend.

Elena Medel. „Die Wunder“. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2022. 222 Seiten, 23 Euro.

Vier Leseempfehlungen

Vier Leseempfehlungen

Überraschender Bestseller

Mit „Papyrus“ von Irene Vallejo ist das spanische Verlagsphänomen der vergangenen Jahre schlechthin endlich auch auf Deutsch erschienen. „El infinito en un junco“, so der spanische Originaltitel, ist eine Reise in die Geschichte des Buches und des Lesens und somit eigentlich ein unwahrscheinlicher Bestseller. Dennoch führte der 2019 erschienene Schmöker über viele Monate die Liste der meistverkauften Bücher in Spanien an und ist bereits in 20 Sprachen übersetzt.

Eines der Geheimnisse des Erfolgs: Die überaus belesene Altphilologin Irene Vallejo hat sich einen schon fast kindlich staunenden Blick auf eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit bewahrt und weiß ihn den Lesern zu vermitteln. In kurzen Kapiteln, die unserer doch mittlerweile etwas eingeschränkten Aufmerksamkeitsspanne gerecht werden, erzählt sie vom Übergang des Erzählens zum Schreiben und Lesen, von ägyptischen Hieroglyphen-Schulen, griechischen Satirikern und den Löwen zum Fraß vorgeworfenen römischen Buchhändlern.

Vallejo entstaubt die Klassiker mit teils freihändigen Übersetzungen aus den Werken der Antike – keine kleine Herausforderung für die beiden Übersetzer ins Deutsche –, streut stilistisch brillante Einfälle ein und springt immer wieder durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart und unsere nicht zuletzt durch das Kino geprägte Vorstellungswelt. Und all dies mit höchsten wissenschaftlichen Weihen. Ein Buch über das Lesen, das wie kaum ein Zweites nicht nur Lust auf die Klassiker der Antike, sondern auf das Bücherlesen als solches macht.

Irene Vallejo. „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“. Aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby. Diogenes, 752 Seiten, 28 Euro.

Vier Leseempfehlungen

Vier Leseempfehlungen