Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Zu Beginn der Kunstnacht in Palma de Mallorca, gegen 18.30 Uhr am 17. September, spürt man noch wenig davon, dass in Kürze Menschentrauben die Stadt füllen werden – begierig auf das beliebte Kulturevent. Der Rundgang der MZ startet diesmal allerdings auch in der per se ruhigeren Peripherie, nämlich in der neuen Galería Fermay im Blanquerna-Viertel.

Antoni Ferrer erklärt einer Gruppe junger Architektinnen die Ausstellung „Floop“ von Carla Arocha und Stéphane Schraenen: ein Parcours aus abstrakten Bildern, angelehnten Spiegeln und Gummipunkten auf dem Boden (als humorvolle Referenz an Bugs Bunny), der den Wunsch visualiert, den komplexen Problemen der Welt zu entfliehen. Irisierende, sich je nach Blickwinkel verändernde Spezialfarbe sorgt für besondere optische Effekte. „Das ist ja richtig partizipativ!“, sagt eine der Besucherinnen.

Weniger zum Mitmachen, als es sich einige Schaulustige wohl gewünscht hätten, ist die Ausstellung von La Bibi Gallery. Die Galerie bespielt im Carrer de Sant Jaume direkt neben Pep Llabrés einen Raum: Hier herrscht großes Gedränge um die Werke des finnischen Duos Tommi Grönlund und Petteri Nisunen, die sich mit Naturphänomenen, Wissenschaft und Technologie beschäftigen und Neugier wecken wollen. Das funktioniert so gut, dass es manchmal übers Ziel hinausschießt: Eine der ikonischsten Arbeiten der Künstler, eine fragile Installation aus Magneten, die sich nicht berühren, wird promt von einem älteren Herrn aus dem Gleichgewicht gebracht. Ein Magnet fällt mit einem „Klonk“ zu Boden. Zum Glück kann Galerist Marc Bibiloni es wieder richten.

Geduldsprobe für Kunstfreunde

Keine Abhilfe gibt es hingegen für Kunstfreunde, die Lluís Garaus nur für Erwachsene geeignete Tanzperformance „La carn“ im Casal Solleric um 20 Uhr sehen wollen und erst kurz vorher dort sind: Die Warteschlange ist imposanter als jene vor den Mode-Ketten zu „aforo limitado“-Zeiten während der Pandemie. Wer viel Geduld hat, wartet bis zur zweiten Aufführung um 21 Uhr. Fran Reus, Präsident des Galeristenverbands Art Palma Contemporani, gibt derweil im Innenhof des Casal Solleric ein Interview – und spurtet danach schnell wieder zurück in seine gut besuchte Galerie

Dort betrachten viele Interessierte die knalligen Werke von Adam Beris und das persönliche Erinnerungsprojekt von Abel Jaramillo. Der quirlige polnische Künstler Rafał Zajko hat sich sogar besonders in Schale geworfen: Sein Outfit mit Sperrholz-Print passt perfekt zu den Sperrholz-Wänden im Raum „The Vault“. Zajko spricht mit Hingabe über seine kleine, spannende Schau, der kuriose Überlegungen über die Beziehung zwischen Mensch und Getreide zugrunde liegen: „Was, wenn nicht wir den Weizen domestiziert haben, sondern wenn er uns benutzt hat, um diesen hohen Stellenwert zu bekommen?“, fragt Zajko. 

Ähnlich erhellend geht es bei Aba Art Lab weiter, wo Mercedes Laguens zum vierten Mal ausstellt. Zuletzt hatte die Künstlerin mit „La brecha“ das Licht interessiert, das durch eine Spalte hindurchdringt. Bei den farbintensiven Werken in verschiedenen Techniken, die in „Luz a la luz“ zu sehen sind, dringt sie zum Licht an sich vor und bringt gewissermaßen Erleuchtung. Die Bilder würden sich hervorragend in einem Yoga-Studio oder im Wartezimmer einer Homöopathie-Praxis machen.

Zum Schwärmen und zum Anfassen

Das Kontrastprogramm wartet im Carrer Sant Feliu, den Gerhardt Braun wie eh und je in die „Partymeile“ der Kunstnachtschwärmer verwandelt. Ein Highlight auf dem Weg: die Galerie Kewenig mit der eindrucksvollen Ausstellung „El ojo interior“ der Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra. Die Installation mit Keramikarbeiten steht für sich, in der Galería Pelaires hingegen herrscht Vielfalt: Bei der Gruppenschau „Pounding The Pavement“ toben sich britische Künstler mit unterschiedlichen Themen und Formaten aus. Zwei französische Besucherinnen kommen beim Anblick eines Bildes mit Luchs von Minyoung Choi ins Schwärmen: („J‘adore les couleurs!“).

Bei Baró ist endlich einmal Anfassen erlaubt: Das spektakuläre, in der Kunstszene viel beachtete haptische Selbstporträt von Amparo Sard überschreitet die Grenze des Virtuellem zum Berührbaren. Mit einer Technik, der sich sonst die Zahnmedizin bedient, dürfen Besucher die Projektion einer 3-D-Büste der Künstlerin mit verschiedenen Werkzeugen bearbeiten und zurichten – und spüren dabei die Widerstände der Oberfläche. „Es geht darum, weniger Darstellungen zu haben und mehr Gefühl“, erklärt Sard. In einer Welt, in der viele Menschen emotional zu dem, was sie sehen, auf Distanz gehen, bringt diese Arbeit uns dazu, etwas ganz deutlich zu fühlen – und den Blick wieder nach innen zu richten.