Mit den ganz großen Themen befasst sich das zur Zeit auf Mallorca stattfindende Wirtschaftsforum Neu Denken. Hochrangige Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft treffen sich dazu in den Tagen Donnerstag (9.6.) bis Samstag (10.6.) in einem Veranstaltungszelt vor dem Hotel Castell Son Claret zu einem offenen Austausch. Ziel ist es - so Moderatorin Sabine Christiansen - in offener Atmosphäre zu reden, ohne zu befürchten, dass man gleich in den sozialen Medien zitiert wird.

Nach einem kurzen Auftakt am Vorabend ging es am Freitag (10.6.) zunächst um die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und Europa. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, zeichnete die großen Herausforderungen auf, um zu dem Schluss zu kommen, und brach eine Lanze für eine resilientere Form der Globalisierung. Als Fazit sah er “gute Gründe für Pessimismus aber bessere Gründe für Optimismus” und die Erkenntnis, dass Gesellschaften “mit hohem Maß an Solidarität” mit den großen Herausforderungen besser umgehen können als diejenigen, die stärker auf Konkurrenz und Individualismus basieren. Das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft sei da gut aufgestellt.

Das Publikum beim Wirtschaftsforum Neu Denken. Plattes Group

Deutschland muss ein offenes Land sein

Christian Dürr, Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, stellte sich Christiansens Frage, wo in der aktuellen Zeitenwende “das Liberale in der Ampel bleibt”. Deutschland müsse, so Dürr, ein modernes Einwanderungsland werden, das vor allem denjenigen die Türen öffnen solle, die im Land kräftig Hand anlegen wollen. Um die Herausforderungen der Klimawende, der Digitalisierung und der Überalterung der Gesellschaft zu meistern, solle man bitte nicht an der Steuerschraube drehen, sondern mit dem Geld wirtschaften, das man zu Verfügung habe.

Ob der Krieg in der Ukraine und die gewünschte Loslösung von fossilen Brennstoffen aus Russland als Beschleuniger für erneuerbare Energien fungieren wird, war die Frage, die Markus Krebber (CEO RWE AG) und Roland Harings (CEO Aurubis AG) beschäftigte. Einen digital zugeschalteten Impuls dafür gab Martin Lück als Chefstratege des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock. Manche Zuhörer waren überrascht, wie sehr die Themen Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit die Chefetagen der Wirtschaft beschäftigen - durchaus auch aus rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten.

Zeitenwende in der Weltwirtschaft

Um die Zeitenwende in der Weltwirtschaft ging es im von Christiansen moderierten Gespräch zwischen Alexander Birken (CEO Otto Group Holding), Karl Gernandt (Executive Chairman Kühne Holding AG) und Karsten Wildberger (CEO Ceconomy AG: Media-Markt und Saturn). Wie aus dem Otto-Katalog-Versand ein Unternehmen wurde, das im Internethandel keine Bedrohung, sondern die Zukunft sieht, war dabei nur eines der Diskussionsthemen. 

Alexander Graf Lambsdorff. Plattes Group

Dass wirklich niemand in den Kopf von Wladimir Putin hineinschauen kann, viele das aber gerne würden, wurde in der nächsten Debatte deutlich. Alexander Graf Lambsdorff - stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion und Experte für Außen-, Sicherheits-, Europa- und Entwicklungspolitik - legte Wert darauf, dass Putins Handeln nur dann irrational wirkt, wenn man die uns vertraute Logik zugrunde legt. Putins Logik sei aber eine ganz andere. Wichtig sei, dass Putin die von ihm verfolgten Ziele nicht erreiche. Sofern man das verhindere, habe man einen gewissen Sieg gegenüber Putin erreicht.

Putin militärisch stoppen

Michail Chodorkowski hielt diese Ziele für zu niedrig gesteckt. Der russische Ex-Oligarch und Kremlkritiker beteiligte sich durch eine Live-Schaltung aus London an der Debatte. Er stellte klar, dass Putin vor allem militärisch gestoppt werden müsse. Sonst verlagere sich die Front zunächst innerhalb der Ukraine immer weiter nach Westen und auch hier würde Putins Russland nicht Halt machen.

Die aus New York angereiste Politologin Nina Chruschtschowa. Plattes Group

Einen sehr differenzierten Blick in Putins Logik wagte die aus New York angereiste Politologin Nina Chruschtschowa (Professor of International Affairs, The New School University). Putin denke in historischen Kategorien und wolle sich einmal Wladimir der Große nennen. Dass auch der Vorname des ukrainischen Präsidenten Selenskyj Wladimir sei, sei dabei eine Ironie der Geschichte, erklärte sie.

Putschversuch als Lösung?

Rüdiger Freiherr v. Fritsch, bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau, wagte die Hoffnung, dass eine wie auch immer geartete militärische Niederlage Putins ihn zumindest bei den Militärs extrem unbeliebt machen könnte. Ob sich daraus aber ein Militärputsch entwickeln könnte, blieb eine unbeantwortete Frage. Russland ist nicht Lateinamerika, stellte Chruschtschowa klar.

An das Schicksal der Kinder auf der Welt erinnerte Georg Graf Waldersee, Vorsitzender des Deutschen Komitees für Unicef. Der mit einem Spendenaufruf verbundene Vortrag - “das ist mein Job” - stellte klar, dass einer ganzen Generation von Kindern die Kindheit genommen worden sei. Millionen Kinder versorge man mit dem Nötigsten. Aber bis die Wunden in den Seelen dieser Menschen heilen würden, werde sehr viel Zeit vergehen.

Mit dem Schreckgespenst Cyberkrieg beschäftigte sich der Vortrag des IT-Experten Linus Neumann. Er stellte klar, dass die bekannten Gefahren durch kriminelle Erpresser sehr viel größer seien als Attacken auf strategische IT-Infrastrukturen. 

Linus Neumann vom Chaos Computer Club. Plattes Group

Schlusslicht bei Unternehmensgründungen

Dass Deutschland zu den Schlusslichtern in Sachen Unternehmensgründungen steht, war war das gemeinsame Fazit einer Diskussion zum Thema Innovation. Nach kurzen Eingangsstatements per Video von Christian Klein, CEO und Mitglied des Vorstands der SAP, und Philipp Justus, Vice President Central Europe Google, begann die Diskussion unter den anwesenden Rednerinnen und Rednern: Helmut Schönenberger erklärte als Vizepräsident von Europas größtem Startup-Zentrum, wie Gründungsförderung funktionieren kann. Conny Boersch erklärte das Thema aus Sicht der Startup-Investoren, Deepa Gautam Nigge, SAP SE Senior Director, und Miriam Wohlfarth (Gründerin Fintechs Ratepay und Banxware) aus Sicht erfolgreicher Gründerinnen.

Um das Thema Weltall ging es im letzten Block des Forums am Freitag. Daniel Metzler, CEO Isar Aerospace Technologies GmbH, und der ehemalige Raumfahrer Thomas Reiter stellten klar, dass es bei dem Thema Raumfahrt vor allem um handfeste wirtschaftliche Interessen ginge. Trotz allen Aufbruchs in ferne Welten, ginge es dabei in erster Linie darum, die Erde aus der Entfernung zu betrachten.