Die Zukunft des Tourismus: Antworten auf die Schicksalsfrage von Mallorca

Wie gelingt auf der Insel ein besserer Tourismus? Und wie kann sie sich breiter aufstellen? Ein Buch eröffnet neue Perspektiven in einer alten Debatte

Wellenbewegung: Mal bestimmten kollektive Interessen, mal individuelle Interessen die Entwicklung des Tourismus auf Mallorca.

Wellenbewegung: Mal bestimmten kollektive Interessen, mal individuelle Interessen die Entwicklung des Tourismus auf Mallorca. / Grafik: Capellà/Foto: dpa

Frank Feldmeier

Frank Feldmeier

Der Buchtitel lässt sich leicht missverstehen. „Tourismus oder kein Tourismus?“, fragt Autor Joan Enric Capellà – und stellt Mallorca vor eine Schicksalsfrage ähnlich wie Shakespeare seinen Hamlet im gleichnamigen Drama mit dem Satz „Sein oder Nichtsein?“ Erst beim Aufschlagen des Buchs folgt dann der Untertitel: „Das ist leider die einzige Frage.“

Dem Verlag sei das als Titel auf dem Cover zu lang gewesen, meint Capellà im Gespräch mit der MZ. Wichtig sei aber ohnehin die Botschaft der Analogie: Wie Hamlet stehe auch Mallorca vor einer existenziellen Frage. Es gehe nicht nur um die Zukunft einer Branche, sondern um die einer Insel, die nun mal alles auf eine Karte gesetzt habe und nun mit schwachem Pro-Kopf-Einkommen, Overtourism und Gentrifizierung hadert. Es ist eine Frage, die der Mallorquiner mit einem Blick über den Tellerrand beantwortet. Capellà hat Geografie studiert, einen Master in Tourismusmanagement in Wellington (Neuseeland) und seine Doktorarbeit über die Branche geschrieben. Er war Gemeinderat in Sa Pobla, Mitgründer von Som Hotels und betreibt heute eine Consultingfirma.

Das Buch ist zum einen eine umfassende Analyse des Ist-Zustands der Tourismusindustrie auf der Insel, die man nicht mit dem Hotelgewerbe gleichsetzen dürfe. Zum anderen ist es ein fast schon ethischer Debattenbeitrag über die Frage, wie sich Mallorca wirtschaftlich besser aufstellen muss. Die üblichen, sich gegenüberstehenden Lobbygruppen mit ihren so oft gehörten, zumeist ideologischen Floskeln für oder gegen den Massentourismus bekommen dabei gleichermaßen ihr Fett weg.

Weder könne es ein „Weiter so“ geben, noch sei eine Radikalabkehr vom Tourismus möglich, argumentiert Capellà: „Mallorca atmet Tourismus.“ Ziel müsse es zunächst einmal sein, das Modell wirtschaftlich, sozial und ökologisch zu optimieren. In wie vielen Bereichen mächtig Luft nach oben ist, fasst die unten stehende Grafik zusammen. Gleichzeitig brauche es einen kulturellen Wandel – „Warum etwas ändern, wenn es auch so irgendwie läuft?“ – und darauf aufbauend eine langfristige Strategie zur Diversifizierung mit konkreten Zielvorgaben, messbaren Etappenschritten und kontinuierlicher Evaluierung.

Der Ist-Zustand

Wie steht Mallorca derzeit da? In einigen Aspekten schneidet die Insel bekanntermaßen sehr gut ab. Da wäre das Angebot an Unterkünften – Vielfalt, Klasse und ganz viel Masse – oder etwa die viel zitierte Sicherheit – Mallorca als Fels in der Brandung angesichts der Krisen in der Welt. Aber auch in der Informationstechnologie spielt die Insel angesichts zahlreicher touristischer Tech-Firmen weit vorne mit.

Wie gut ist der Tourismus aufgestellt? Die Grafik zeigt den Stand auf einer Skala von 0 bis 100.

Wie gut ist der Tourismus aufgestellt? Die Grafik zeigt den Stand auf einer Skala von 0 bis 100. / Grafik: Capellà

Bei anderen Aspekten ergibt sich eher ein durchwachsenes Bild. In der Gastronomie etwa – sei es im Hotel oder in Tourismuszonen – gebe es einerseits sehr innovative und hochwertige Angebote, andererseits aber überkommene von schlechter Qualität. Viele Lokale außerhalb der Tourismusgebiete haben heute hybriden Charakter, leben von Einheimischen wie von Urlaubern. Ähnlich zwiespältig die Lage in Sachen Infrastruktur. In diese habe Mallorca zwar kräftig investiert, aber zum einen meist pragmatisch statt vorausschauend, zum anderen mit erheblichen Mängeln – man denke an die Wasseraufbereitung.

Die Lage bei Kommunikationspolitik, touristischen Produkte, Innovation

Und dann gibt es eine ganze Reihe von Aspekten mit unterdurchschnittlicher Performance, die aber wohl deshalb nicht weiter auffallen, weil es auch so irgendwie läuft und Urlauber in großer Zahl kommen. Da wäre etwa die Kommunikationspolitik. Wer nach Mallorca kommt, informiert sich in Reiseführern, sozialen Netzwerken oder der MZ, aber selten in Tourismusbüros oder auf den Portalen von Landesregierung und Inselrat. Diese „bieten wenig Information und geben angesichts beständiger Zugangsprobleme, schlechter Verlinkung und geringer Intuitivität ein klägliches Bild der Angebote ab“. Ausnahmen wie das Strandportal „Platges de Balears“ bestätigen die Regel. Ergänzen ließe sich in der Negativliste die holprige bis schlechte Übersetzung.

Ähnlich negativ beurteilt Capellà die Entwicklung touristischer Produkte. Mallorca-Urlaub, das sind meist einfach die idyllischen Buchten, das türkisfarbene Meer, die authentischen Dörfer. Statt Urlaubern konkrete und innovative Angebote zu machen – Führungen, Aktivitäten, Touren – werden sie meist einfach im Mietwagen auf die immer gleichen Orte losgelassen – der Autor spricht etwa vom Dreieck Valldemossa-Deià-Sóller –, wo dann schnell der Eindruck der Überfüllung entsteht, ganz zu schweigen von den Naturstränden. Eine riesige Nachfrage trifft auf ein geringes Angebot.

Schlechte Noten gibt es auch für Forschung, Entwicklung und Innovation. Weder zeigten die Vertreter der Wirtschaft ausreichend Sensibilität für die Forschung, noch gelänge es den Wissenschaftlern, ihre Erkenntnisse zu kommunizieren. „Misstrauen, Neid, der Hang zur Eigendarstellung, fehlende Sensibilität, Inkompetenz und Mittelmäßigkeit“ seien Gründe, warum es kein ausreichendes Ökosystem für Innovation im Tourismus gebe. Die Neuerungen würden vielmehr von außen übergestülpt und irgendwie adaptiert, von All-inclusive über Low-Cost bis Airbnb und Co.

Und ähnlich mies ist das Urteil hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung. Diese sei stets im Schlepptau der Tourismuswirtschaft und komme ihren Aufgaben zur Planung und Kontrolle nicht nach, nicht zuletzt bedingt durch das Kompetenzenwirrwarr der zuständigen Behörden. Die wiederholt aufgelegten Strategiepläne seien wegen ihrer Kurzsichtigkeit und Oberflächlichkeit meist eher fürs Regal geeignet als für die Umsetzung. Das Scheitern des Konsortiums zur Modernisierung der Playa de Palma sei gar ein „Fall nationaler Schande“.

Ein Versäumnis der Politik ist zudem die fehlende Teilhabe der Bevölkerung. Statt einen echten Dialog zu suchen, gebe es nur Treffen mit den immer gleichen Branchensprechern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. „Diese Herren repräsentieren niemanden, nicht einmal ihre Branche“, kritisiert der Autor. Als Beispiel für die Intransparenz tourismuspolitischer Entscheidungen führt er die Touristensteuer an. Das für die Abgabe eigens geschaffene Online-Portal wurde seit 2019 nicht mehr aktualisiert.

Corona – die verpasste Chance

Mit dem Machtwechsel auf den Balearen 2023 zeigten sich einmal mehr die gegensätzlichen Ansätze von links und rechts – und Capellà kann weder den Bemühungen um eine Deckelung der Gästezahlen etwas abgewinnen, wie unter der Regierung von Francina Armengol, noch der neuen Freiheit unter der Regierung Prohens. „Grenzen zu setzen ohne Kriterium oder Strategie, ist ein Fehler. Aber Limits aufzuheben ohne Kriterium oder Strategie ist ebenso falsch.

Zumal Corona drastisch vor Augen führte, wie einseitig Mallorca vom Tourismus abhängt. Warum war die Denkpause kein Katalysator für Kurskorrekturen? „Das ist eine Frage, die mich veranlasst hat, dieses Buch zu schreiben“, sagt Capellà. „In der gesamten Tourismusbranche habe ich keinen Ansatz in diese Richtung gesehen, jeder wollte zurück zum Bisherigen.“ Trotz dieser „globalen Ohrfeige“ liege Mallorca „in Narkose“. „Das hat mich sehr wütend gemacht.“

Dabei gäbe es längst jede Menge Analysen über den gewaltigen Reformbedarf. Der Autor verweist auf das Weißbuch des Tourismus von 2009. „Die dort formulierten Rezepte sind etwas akademisch, aber sehr gut herausgearbeitet.“ Das Problem sei nicht die Bestandsaufnahme, sondern die fehlende Umsetzung.

Der Soll-Zustand

An dieser Stelle setzen die Vorschläge von Capellà an, ihm geht es um tiefgreifende Veränderungen über ein oder zwei Generationen. Mallorca müsse an einem kollektiven Bewusstsein arbeiten, an dem alle teilhaben und das dabei hilft, den vorherrschenden Egoismus zurückzudrängen. Das mag naiv klingen. Aber wenn jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht sei, habe auch kein Strategieplan für Mallorca eine Chance. Erfolgversprechender sei ein Modell der Koopetition – ein Kunstwort aus Kooperation und Konkurrenz –, bei dem trotz des Wettbewerbs ein gemeinsames Ziel verfolgt wird, von dem dann alle profitieren.

Nicht das System an sich ist pervers, sondern wir Menschen haben es dazu gemacht.

Der Autor argumentiert zudem, dass es die nötige Empathie früher durchaus gegeben habe, etwa als der Fremdenverkehrsverband vor mehr als hundert Jahren gegründet wurde, oder auch in den goldenen 1960ern. „Damals hatten noch alle Anteil an der Fiesta.“ Einen Tiefpunkt erreichte das Gemeinschaftsgefühl dagegen im Tourismus ab den 1970ern, als „wenige im Überfluss sehr reich wurden“, oder auch während der Spekulation der 1990er (s. Grafik). Es wäre jedoch ein Fehler, die Schuld pauschal dem Kapitalismus, der Globalisierung oder dem Tourismus zu geben. „Nicht das System an sich ist pervers, sondern wir Menschen haben es dazu gemacht“, so Capellà. Nicht der Tourismus, die Menschen müssten sich ändern.

Ein Umdenken sei zudem hinsichtlich der Identität der Bevölkerung und ihrer Beziehung zur Insel nötig. Capellà geht über den Begriff der Nachhaltigkeit hinaus und führt stattdessen das Konzept der Ökosophie an – die Umwelt ist nicht nur Objekt, vielmehr geht es um eine ganzheitliche, ethisch-politische Verbindung zwischen Umwelt, sozialen Beziehungen und Individuen. Anders gesagt: Die Menschen müssten die bestehende Entfremdung voneinander und von der Insel überwinden. Ziel sei eine neue Wertschätzung des historischen, kulturellen und natürlichen Erbes, aber auch ein neues Miteinander der Einheimischen mit den Zugewanderten – sowohl mit Arbeitsmigranten des Tourismusbooms als auch mit ausländischen Neu-Residenten auf ihren Fincas.

Viel Stoff also, über den sich prächtig diskutieren lässt. Capellà stellt sein Buch derzeit in den Gemeinden Mallorcas vor und will eine breite Debatte anregen (Forum und Termine unter homoturisticus.info). „Es ist eine Einladung, endlich aufzuwachen“, sagt er.

Joan Enric Capellà Cervera: Turisme o no turisme. Reptes per a la Mallorca del segle XXI

  • Verlag Lleonard Muntaner
  • 165 Seiten
  • Katalanisch
  • ca. 18 Euro

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