Street-Art von der Insel entdeckt man meist zufällig: Beim Stromern durch unbekannte Gassen oder von der Couch aus beim Scrollen durch digitale Fotosammlungen wie der von streetart_mallorca auf Instagram. Nun gibt es bei Amazon auch eine schmucke Auswahl der Werke in Buchform zu erwerben: "Banksy from Palma: Looking for Creative Street Art and Graffiti" heißt der neue Bildband mit einer minimalistischen Einleitung auf Englisch und 170 großen Fotos auf 188 Seiten (Preis: ca. 17 Euro). Hinter der Publikation steckt der äußerst begeisterungsfähige Schweizer Silvan Kaeser, der den Band "aus Liebe zu dieser Insel" gestaltete, wie er im MZ-Gespräch erzählt.

Kaeser betreibt eine Werbeagentur in Luzern und hat als Grafiker und durch die Fotografie für eine Bildagentur ein geschultes Auge. Seine Begeisterung für Street-Art entdeckte der 48-Jährige, der seit 20 Jahren regelmäßig auf Mallorca urlaubt, tatsächlich in Palma. "Jedes Mal sind mir die Graffitis aufgefallen, weil sie sehr viel kreativer sind als bei uns in der Schweiz, wo es oftmals nur Spielereien oder destruktive Werke sind", sagt er. "In Palma geht es einen Schritt weiter: Man will die Stadt verschönern, und das hat mich fasziniert." Auch 3-D-Arbeiten, bei denen etwa kleine Rahmen oder Bilder in dunkle Ecken gehängt werden, habe er noch nie zuvor in einer Stadt gesehen. "Das ist eigentlich das Gegenteil von Zerstörung", schwärmt Kaeser.

Große Kunst in dunklen Gassen

Die Fotos im Buch sind zwischen 2014 und 2021 entstanden. Die wohl fruchtbarste Zeit für das Projekt war vor zwei Jahren, als der Grafiker für drei Monate sein Büro nach Palma verlegte und in La Lonja wohnte – ganz nah am Geschehen. "Ich bin jeden Tag um 6 Uhr morgens joggen gegangen, und dann ist man ganz allein in der Stadt. Es war faszinierend, die Street-Art so zu entdecken", erzählt Kaeser. In den dunklen Gassen finde man meist die größten Schätze. Stieß er auf ein neues Bild, kehrte er noch einmal mit der Kamera zurück. Das stetig wachsende Fotomaterial wollte er nun zum einen als Buch weiter verbreiten, zum anderen versteht er sich auf diese Weise als Chronist: "Das ist ein Zeitzeugnis von Dingen, die in zwei Jahren so nicht mehr existieren."

Dieses von Kaeser heiß geliebte Kunstwerk in Palma wurde inzwischen übermalt. Silvan Kaeser

Der Aspekt der Vergänglichkeit der urbanen Kunst, die oft wieder übermalt wird, macht sie in seinen Augen so spannend. "Ich denke, viele Künstler, die das betreiben, konzipieren das für sehr lange Zeit, aber die Realität ist natürlich anders." In Palma arbeiten viele Künstler mit Aufklebern oder gedrucktem Papier. "Das Tolle ist, dass die Zeit natürlich auch daran nagt, und die Werke zwar nach einem oder zwei Jahren immer noch hängen, aber kaputt sind. Das ergibt eine wunderbare Patina", sagt Kaeser.

Trauer um für immer verlorene Arbeiten ist ihm trotzdem nicht fremd. In der Nähe des Passeig del Born gebe es ein wahrscheinlich bezahltes Bild auf einem Garagentor. Ein weiteres Werk, offenbar desselben Künstlers, sei plump übermalt worden, wie Kaeser dokumentierte. "Statt daraus etwas Cooles, Neues entstehen zu lassen, ist es zerstört worden." Solche Aktionen sind keine Seltenheit, manchmal mag Neid dahinterstecken.

Die mitunter poetischen Strichmännchen von Exit haben im Buch ein eigenes Kapitel bekommen. Silvan Kaeser

Was dem Schweizer hingegen an den Insel-Künstlern besonders gefällt, ist ihr kreatives Tagging, das häufig statt Buchstaben aus kleinen Strichmännchen besteht – "amüsante und witzige Kreaturen, die unterhalten". Neben Präzision und Kunstfertigkeit, die er bei vielen Arbeiten schätzt, bewundert Kaeser es, wenn ein Street Artist die Dinge originell und extrem reduziert auf den Punkt bringen kann: Zum Beispiel ein kleines Männchen, das über einem verwaschenen Schriftzug mit einem Herzen davonfliegt. Hier steckt die Liebe buchstäblich im Detail.

Kriterium Sozialkritik

Auch wenn Kaeser sich nicht anmaßen wollte, die Straßenkunst zu bewerten, ist für ihn ein wichtiges Kriterium, dass sie entweder Unterhaltungswert besitzt oder einen kritischen Anspruch hat. Letzteres spiegelt sich auch in der Wahl des Titels und der ersten und wichtigen Kategorie "Socially critical": "Banksy ist ja oft sehr sozialkritisch, und das habe ich hier bei einigen Künstlern auch gesehen." Ein Beispiel dafür: Das krabbelnde Baby mit Gasmaske, welches das Buchcover ziert. Einige Werke könnten laut dem Street-Art-Fan tatsächlich von dem britischen Künstler Banksy persönlich sein, etwa ein in nur wenigen Strichen gelungenes Bild eines sich auflösenden Mannes mit Smartphone in typischer Bushaltestellen-Wartepose.

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Banksy lässt grüßen: Dieses Werk könnte man tatsächlich dem mysteriösen Künstler zuschreiben. Silvan Kaeser

Ob der mysteriöse Künstler einmal selbst in Palma sprühte? Nichts Genaues weiß man. Auch bei vielen anderen Künstlern, die im Buch verewigt sind, bleibt die Identität ein Geheimnis, obwohl sich der Grafiker bemüht, ihnen nachzuspüren. Doch das sei eben ein Schlüsselreiz dieser Kunst: Niemand weiß, wer sie gemacht hat, und trotzdem gefällt sie. Kaeser sieht darin gar eine Parallele zur Fastnacht in Luzern: "Wenn ich als Fastnachtskünstler eine Maske trage und dann zwei, drei Tage später im Bus noch davon gesprochen wird, ist das für mich das schönste Kompliment."