Warum eine verkleidete Frau an Heiligabend auf Mallorca den Weltuntergang besingt

Weihnachten ohne Sibyllengesang ist auf Mallorca undenkbar. Was der Brauch bedeutet, wie er sich heute wandelt

Eindrucksvoll: der Cant de la Sibil·la im Jahr 2021 zusammen mit der Capella Mallorquina in der Kirche Santa Eulàlia in Palma.

Eindrucksvoll: der Cant de la Sibil·la im Jahr 2021 zusammen mit der Capella Mallorquina in der Kirche Santa Eulàlia in Palma. / LLEONARD MUNTANER

Brigitte Rohm

Brigitte Rohm

Denken Deutsche im Zusammenhang mit Weihnachten an eine weibliche Gestalt, dann wohl an einen lieblichen Engel mit goldener Lockenpracht. Auf Mallorca gibt es eine Art Anti-Engel: Mit Schwert bewaffnet und in einem orientalisch anmutenden Gewand besingt die Sibylle am Heiligabend a cappella das Jüngste Gericht, den Antichristen und den Tod jeglichen Lebens auf der Erde: Die Sonne soll sich verdunkeln, Meere, Quellen und Flüsse in Flammen aufgehen. Mehr dramatisch als besinnlich, aber geschichtsträchtig ist diese uralte Tradition des „Cant de la Sibil·la“, die außer auf Mallorca heute nur noch auf Sardinien gepflegt wird.

Düster-schönes Welterbe

Francesc Vicens, der Sibyllen-Forscher. / Pere Estelrich

Wie kein Zweiter kennt sich damit in Theorie und Praxis der Musikologe Francesc Vicens (Palma, 1977) aus: Er beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Thema, hat gerade das vierte Buch dazu veröffentlicht – und ist sogar mit einer Sibylle verheiratet: „Meine Frau wird in Colònia de Sant Pere singen, wo wir Weihnachten verbringen, und ich begleite sie auf der Orgel“, erzählt Vicens voller Vorfreude im Telefoninterview. Auch wird er nach all den Jahren nicht müde, die Ursprünge des Brauchs zu erklären, der 2010 von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde.

Propheten-Shows in der Kirche

Der Sibyllengesang war seit dem Mittelalter überall in Europa verbreitet. Ein Schlüsseldatum ist hierbei das Jahr 999, weil die bevorstehenden Zeitenwende die Menschheit in Panik versetzte – man wähnte sich der Apokalypse nahe. Kirchen und Kathedralen waren damals noch Orte, an denen nicht nur Gottesdienste abgehalten, sondern auch beim Volk beliebte Theaterstücke zu mythischen Themen aufgeführt wurden. Eine davon war die Prozession der Propheten, in der der Auftritt der Sibylle von Erythrai den Höhepunkt bildete. „Sie ist eine bedeutende Figur – rätselhaft, magisch und düster. Die Menschen sehnten ihr Erscheinen herbei“, sagt Vicens. Das Schwert ist noch ein Überbleibsel jener Inszenierungen.

Allerdings wurde das Treiben dem Vatikan irgendwann zu bunt: „Die Kirchen waren zu Schauplätzen von Spektakeln geworden, die man fast als Freizeitvergnügen bezeichnen kann“, so der Musikologe. Ab dem Konzil von Trient (1545–1563) schränkte der Klerus die populären Aufführungen ein. „Von Rom aus wurde die Sibylle zum Schweigen gebracht.“ Allein: Auf Mallorca, wo die katalanischen Eroberer 1229 die Tradition eingeführt hatten, widersetzte sich die Bevölkerung dem päpstlichen Willen. Die Insellage war dabei sehr hilfreich.

Mildere Version zu Weihnachten

Im 17. Jahrhundert wurden die Verbote ausgeweitet und brachten auf Mallorca zumindest eine entscheidende Änderung mit sich: „Früher wurde der Sibyllengesang zu vielen wichtigen Feiertagen aufgeführt. Seit 1692 war er nur noch im Rahmen der Weihnachtsmesse erlaubt“, erklärt der Musikologe. Da der Text in der Nacht der Ankunft des Erlösers doch ein wenig beklemmend ist, wurde Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue Strophe hinzugefügt: Der Vers über die Jungfrau Maria und die Geburt des Jesuskindes sorgt am Ende für etwas weihnachtliche Milde und einen versöhnlichen Twist.

„Heute ist der Sibyllengesang unentbehrlicher Teil der mallorquinischen Weihnachtstradition“, sagt Vicens. Die Melodie sei in 80 Prozent der Fälle die gleiche. Eine Ausnahme stelle beispielsweise Lluc dar, wo eine schwerere und traurigere Sibyllenversion zu hören ist. Der gregorianische Gesang dauert zwölf bis15 Minuten. Es ist ein Augenblick, in dem völlige Stille herrscht und die Menschen gebannt zuhören. „Man sagt: Wenn die Sibylle singt, ist es wie ein Donnerschlag, eine Ermahnung an die ganze Gemeinde“, sagt Vicens.

Düster-schönes Welterbe

Das Buch von Francesc Vicens. / Brigitte Rohm

Und auch für die Sängerinnen sei es oft eine intensive und einmalige Erfahrung. „Manche erleben dabei einen transzendentalen Moment und eine tiefe Verbindung mit etwas sehr Altem“, sagt der Experte. Und trotzdem sei die Aktualität des Gesangs größer denn je: Heute gebe es immer mehr Menschen, die den Cant de la Sibil·la mit aktuellen Ereignissen wie Pandemie und Klimawandel in Verbindung brächten. „Viele Frauen, die die Rolle verkörpern, empfinden die Situation wie einen Hilferuf an die Sibylle: Sie soll Antworten darauf geben, was die Welt uns gerade mitteilt.“

Feministische Ermächtigung

Meist schlüpft eine Frau oder ein Mädchen, manchmal auch ein Knabe in die Rolle der von Messdienern mit Kerzen begleiteten Sibylle. Das war nicht immer so: Ursprünglich waren es Geistliche – als Frauen verkleidete Männer mit Naturhaarperücken und Kopfschmuck. „Sie waren sicherlich eine Art Dragqueens“, meint Vicens. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) stand der Part weiblichen Sängerinnen offen. Heute empfänden viele Frauen den Gesang der Sibylle – eine Wahrsagerin, deren Stimme für das Volk relevant ist, die respektiert und gefürchtet wird – als Ausdruck feministischer Ermächtigung.

Die Sibylle als Weltbürgerin

Bewahrung oder gar Rettung durch die UNESCO habe die tief verwurzelte und lebendige Tradition nicht nötig. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Vicens damit, wie sich die Ernennung 2010 zum Weltkulturerbe auf den Sibyllengesang ausgewirkt hat. Die knappe Antwort darauf: nicht sehr stark. Zumindest, was seine Essenz betrifft, denn die Aufführungspraxis zu Weihnachten habe sich nicht verändert. Das Bewusstsein der Mallorquiner dafür, dass es sich um einen authentischen und eigenen Brauch handelt, spiele dabei eine große Rolle.

Allerdings, so Vicens, ist der Gesang außerhalb der Insel wesentlich bekannter geworden. „Er wurde jetzt auch an anderen Orten auf der Welt präsentiert, dieses Interesse an der Sibylle gab es in dieser Ausprägung zuvor nicht.“ Auch beobachtet der Experte deutlich mehr musikalische Neuinterpretationen, von Jazz bis Doom Metal. Seiner Ansicht nach keine Verwässerung des Brauchs, sondern eine Ergänzung der „puren“ Variante an Weihnachten.

Auch wenn die Sibylle am Heiligabend allein im Fokus steht: Sie braucht ein ganzes Team der Gemeinde im Hintergrund, damit jedes Detail passt – von der musikalischen Begleitung bis zum faltenfreien Kostüm. „Es ist auch eine menschliche Aktivität und eine soziales Ereignis: Wenn die Sibylle in einem Dorf singt, möchte jeder genau wissen, wer das war und ob sie es gut gemacht hat“, sagt Vicens.

Gelegenheit, den Sibyllengesang zu erleben, gibt es in so gut wie allen Pfarrkirchen der Insel (Anfangszeiten der als matines bezeichneten Hochämter unter bit.ly/Matines2022): „Die historischen Pfarrkirchen in Palma sind immer eine gute Wahl, das Niveau ist sehr hoch“, rät der Musikologe. Für besondere Erlebnisse empfiehlt er das Kloster Lluc oder die Pfarrkirche von Campos: „Die Sibylle dort, Inés Mas, ist sensationell – für mich die beste auf Mallorca“, schwärmt Vicens. „Und dieses Jahr hat sie ein neues Kostüm.“ Übrigens sind es nicht nur Mallorquinerinnen, die heute als Sibyllen auftreten: In Pòrtol gebe es etwa eine Sängerin aus China, in Son Servera Frauen aus Finnland und Großbritannien, die sich der Herausforderung stellen. „Die Sibylle des 21. Jahrhunderts ist eine Weltbürgerin“, betont Vicens.

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