Meinung | DER INSELDUDEN

Gelassenheit schaut anders aus

MZ-Kolumnist Jan Lammerst setzt sich mit der Eile und der Hast auseinander

Hetzen, in großer Eile sein, etwas mit Hast erledigen

Der heutzutage häufig gebrauchte Begriff „Stress“ wird erst seit rund hundert Jahren für Situationen extremer Beanspruchung verwendet. Dieser Druck kann zwar auch positive Wirkungen haben wie etwa bei Leistungssportlern, meist sind die Folgen jedoch von negativer Prägung. Vor der Verwendung dieses neuzeitlichen Begriffes sprach man wie etwa Papst Johannes XXIII. schlichtweg vom Hetzen: „Ich werde mich vor zwei Übeln schützen: vor der Hetze und der Unentschlossenheit.“ Auch auf der Insel wird davor gewarnt, dass „diejenigen, die hetzen, weniger haben werden“ (com més frissen, manco en tenen). Hastig erledigte Angelegenheiten müssen schließlich oft erneut durchgeführt werden und dauern somit länger: „Umso mehr man hetzt, desto schneller fällt man hin“ (com més frissen, més tropissen).

Solange auf einen gewartet wird

Der französische Lyriker Paul Verlaine prangerte drei der Auslöser für dieses menschliche Verhalten an: „Der Hass, der Neid, das Geld: wie gut sie hetzen können!“ Zumal meist kein Grund zur Unruhe besteht, wie ein hiesiges Sprichwort augenzwinkernd feststellt: „Solange auf einen gewartet wird, muss man sich nicht hetzen“ (Mentre esperin, no s’ha de frissar). Bei manch anderen Sachverhalten könnte man sich gegebenenfalls sogar auf den Kopf stellen, ohne etwas zu bewirken, wie der deutsche Kinderliedautor Manfred Hinrich zu bedenken gab: „Hetz mal den Apfel reif!“. Und über kurz oder lang erwartet uns alle grundsätzlich dasselbe Ende. Es gilt also, die irdische Existenz zu genießen: „In den Himmel werden wir kommen, aber wir haben keine Eile dazu“ (Al cel anem i no frissem). Oder wie es der Verfasser polnischer Wörterbücher Jacek Orlowski ausdrückte: „Die kleinen Freuden im Leben können nur diejenigen aufpicken, die in der sinnlosen Hetze des Lebens innehalten können, um sich nach ihnen zu bücken.“