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Mit Stift und Papier die Welt in Ordnung bringen

MZ-Kolumnist Juan José Millás erklärt was zu tun ist, wenn die Welt so verwirrend ist, dass sie erst auf dem Papier Sinn ergibt

Kunsttherapie kann eine Hilfe zum Verständnis der eigenen Bedürfnisse und zum Verstehen der Welt sein.

Kunsttherapie kann eine Hilfe zum Verständnis der eigenen Bedürfnisse und zum Verstehen der Welt sein. / dpa

Das Schreiben besteht in gewisser Weise darin, die Realität zu bereinigen. Oder zumindest dem Versuch, dies zu tun. Ich weiß nicht, ob man in der Schule oder an der Universität noch Notizen macht, ich weiß nicht einmal, ob es die Notizen noch gibt, die in aller Eile gemacht wurden, ohne auf Schrift, Interpunktion oder Syntax zu achten. Verben, Konjunktionen, Fragezeichen und Akzente fehlten oft. Später, zu Hause, wurde dieser Entwurf entziffert, und nach und nach wurden die mit dieser verrückten Stenografie niedergelegten Ideen artikuliert und entwickelt.

Wer über die Welt liest, versteht sie leichter

Die Realität ist im Allgemeinen verrückt, bis man sie aufschreibt. Deshalb gibt es über jede Realität mehrere Bücher auf der Welt, weil man sie nicht nur versteht, wenn man sie aufschreibt, sondern auch, wenn man sie liest. Ich verstand erst, was in der Wahlnacht des 23. Juli geschah, als ich drei oder vier Leitartikel dazu las.

Gott hat nicht die Welt geschaffen, sondern einen Entwurf der Welt. Dann war er zu faul, ihn zu bereinigen, und das ist es, was die meisten Romanautoren tun: Ordnung in das Ur-Chaos bringen. Ich meine mich zu erinnern, dass es in „Historia de un deicidio“ (Geschichte eines Gottesmordes, Anm. d. Red.), Vargas Llosas Buch über García Márquez, genau darum ging: wie Autoren den Allmächtigen verdrängen, um eine Realität zu schaffen, wie sie Gott beabsichtigte (was immer dieses Paradoxon bedeuten mag).

Ein Leben reicht nicht aus

Perspektivisch betrachtet, hat jedes Leben etwas Hastiges. Wir müssten ein zweites leben, um das erste zu bereinigen. Ich sagte ein zweites, aber es könnte auch ein drittes oder viertes sein, weil wir nicht dazulernen. Es gibt Romane, mit denen man erst in der fünften Fassung zufrieden ist. Und nicht einmal dann, denn das exzessive Umschreiben birgt auch Gefahren: die Gefahr der albernen Perfektion oder die Gefahr des Mangels an Spontaneität. Manchmal liegt im Fehler die Tugend, aber es ist nicht leicht, diesen kreativen Defekt auszumachen.