Wie 1375 auf Mallorca ein Vater und sein Sohn den ersten Weltatlas schufen

Was für ein Werk! In Palma ist wieder der "Katalanische Atlas" von Abraham und Jafudà Cresques zu bestaunen

Ausschnitt des Katalanischen Atlas (1375) von Abraham Cresques.

Ausschnitt des Katalanischen Atlas (1375) von Abraham Cresques. / Abraham Cresques/Bibliothèque Nationale de France

Brigitte Rohm

Brigitte Rohm

Sie malten (sich) im 14. Jahrhundert buchstäblich die Welt aus und ernteten damit Ruhm von Brüssel bis Alexandrien: die jüdischen Kartografen Abraham und Jafudà (auch Jehuda oder Judah) Cresques. Ihr auf Mallorca entstandenes Meisterstück, der Katalanische Atlas von 1375, ist der älteste erhaltene Weltatlas. Zwei eindrucksvolle Reproduktionen davon sind dieser Tage in Palma zu sehen.

Der Vater, Abraham, war ein angesehener Kartografenmeister, Kompassbauer, Uhrmacher, Übersetzer, Miniaturen- und Buchmaler und gab sein Wissen und seine Kunst an seinen Sohn weiter – was diesem später das Leben retten sollte. Die Kartografen lebten einst hinter verschlossenen Türen, in wenigen engen Gassen des „Call“, wie das Judenviertel von Palma genannt wurde. Dort stieg die Familie der Kompass-Juden, wie sie in Europa bezeichnet wurde, an die Spitze der Rangordnung auf: Ab 1380 hatte sie den Status von „Verwandten des Königs“ inne und war damit gewissermaßen unantastbar.

Cresques überlebte den Pogrom

Peter IV. (Regierungszeit: 1336–1387) hatte die Juden des Ghettos von Ciutat de Mallorca, einem der wichtigsten im Reich, systematisch an den Hof gebunden, und bediente sich ihres Geldes und Wissens. Sein Nachfolger, Johann I. von Aragonien, der von 1387 bis 1396 regierte, hatte dem ab den 1380er-Jahren aufkommenden Judenhass nicht viel entgegenzusetzen. Am 2. August 1391 drangen mit Knüppeln und Messern bewaffnete Bauern in den Call ein und brüllten: „Taufe oder Tod!“ Etwa 300 Juden starben bei dem fünftägigen Pogrom.

Der zu diesem Zeitpunkt etwa 40-jährige Kartenmaler Jafudà Cresques und seine Familie – Abraham Cresques war vier Jahre zuvor gestorben – gehörten zu den wenigen, die unersetzlich waren, besonderen Schutz genossen und hinter die Mauern des Almudaina-Palastes in Sicherheit gebracht wurden. Cresques wurde zwangsgetauft und erhielt den Namen Jaume Ribas. Seine Werkstatt und sein Besitz wurden geplündert, zerstört oder beschlagnahmt.

Nach dem Überfall vom Sommer 1391 verließ der Kartograf die Insel gen Barcelona, wo er später unter seiner neuen Identität weiterarbeitete. Vermutlich hatte Jafudà Cresques bei der Überfahrt über das Mittelmeer zum ersten Mal in seinem Leben ein Schiff betreten, wie die Journalistin Brigitte Kramer 2009 in einem noch heute lesenswerten Artikel für die Zeitschrift „mare“ schrieb.

Mit der „Cartografia de l’imaginari“ (hier ein Standbild aus dem Rendering) verwandelt sich die Llotja in einen einzigartigen Raum, der eine Brücke in die Vergangenheit schlägt.

Mit der „Cartografia de l’imaginari“ (hier ein Standbild aus dem Rendering) ist die Weltkarte als immersive Installation an der Decke der Llotja zu sehen. / Xavi Bové Studio

Fantastische Weltkarten

Umso erstaunlicher, auf welches Niveau die Cresques ihre Kunst der „Mapamundi“ brachten, fantastisch ausgeschmückte Karten der Welt, die sie nie mit eigenen Augen gesehen hatten. In der Werkstatt im Ghetto entstanden erstmals maßstabsgetreu gezeichnete Seefahrtskarten, die Portulankarten. Und auf dem Katalanischen Atlas ist zum ersten Mal auf einer geografischen Karte eine Kompassrose zu sehen.

Die Meister nutzten verschiedene Quellen: allgemein zugängliche Erkenntnisse der Antike, darunter Berichte des venezianischen Händlers Marco Polo, sowie das geografische und kulturelle Wissen der Diaspora ihres Volkes und des seit rund 170 Jahren bestehenden jüdischen Viertels, in dem sie lebten.

Ein kostbares Geschenk

Ihr zwölfteiliges, aus sechs Doppelseiten bestehendes Opus magnum war eine Auftragsarbeit von Johann I., damals noch Kronprinz von Aragonien. Er machte den Katalanischen Weltaltas seinem zwölfjährigen Cousin, dem frisch gekrönten König Karl VI. von Frankreich, zum kostbaren Geschenk, das die Bande zwischen den Königshäusern stärken sollte. Die bemalten Tierhäute, die auf sechs 65 mal 50 Zentimeter große Holztafeln gezogen sind, vermitteln ein komplexes Bild der Welt, wie man sie vom Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance sah: als runde Erde, die im Mittelpunkt des Kosmos steht.

Ein Teil des Meisterwerks enthält handfeste Instrumente der Navigation, mit bis heute gültigen nautischen Informationen, sowie geografisch korrekte Küstenlinien. Die Karte verzeichnet Städte, Regionen und Reichsgrenzen, Häfen und Strömungen, sie verewigt die Schöpfungsgeschichte, die vier Elemente und ihre Eigenschaften, Kontinente, Meere und Ozeane.

Zu den zahlreichen Details gehören auch Angaben zur Bevölkerung oder den Herrscherfamilien und folkloristische Elemente – etwa vorbeiziehende Karawanen und Elefanten. Mythen und Legenden besaßen im Mittelalter als Quellen den gleichen Wert wie Erfahrung und Berechnung – so tummeln sich in fernen Regionen auch Monster, Fabelwesen und Phantominseln.

Eintauchen in das Meisterwerk

Das Original des einmaligen Atlas befindet sich heute in der französischen Nationalbibliothek. Doch derzeit ist in Palma ein Faksimile aus der Biblioteca Nacional de España zu bewundern. Das Museum Es Baluard hat die Karte ins Zentrum seiner aktuellen Präsentation der Sammlung gestellt: „Sin Rumbo. Confrontar la Imago Mundi“.

In diesem Rahmen gibt es für kurze Zeit auch noch eine weitere Möglichkeit, sich dem Erbe der Meister-Kartografen intensiv zu nähern: An der Decke des gotischen Baus Llotja de Palma beschwört eine immersive Installation von Xavi Bové Studio und Dalumen Lab den Atlas in all seiner Pracht herauf und richtet dabei den Blick auf Anmerkungen und viele Details. Eindrücklicher lässt sich wohl kaum erfahren, wie die Cresques vor 700 Jahren die Welt betrachteten.

Abonnieren, um zu lesen