Es kann einem schon schwindelig werden, wenn man in der Mitte der Bahnradpiste steht und Harrie Lavreysen mit den Augen verfolgt. In einem Mordstempo düst der 25-jährige Holländer die Schrägen entlang, während seine Teamkameraden weiter oben auf der Piste langsamer werden. Hier dreht die niederländische Bahnrad-Nationalmannschaft ihre Runden, und das Ganze erinnert an trichterförmige Spendenbehälter, in denen man Münzen kreisen lassen kann. Zwei Wochen lang haben die Niederländer im Velodrom Illes Balears – vormals Palma Arena – trainiert. Das Trainingslager hatte der Radreiseanbieter Fred Rompelberg organisiert. Die Sportler waren im Hotel Playa Golf an der Playa de Palma untergebracht.

„Für uns ist es die Saisonvorbereitung. Mit dem Nations Cup in Glasgow startet am 20. April das erste große Rennen des Jahres“, sagt René Wolff. Der 44-Jährige aus Erfurt ist Cheftrainer des holländischen Verbands und führt die knapp 20-köpfige Reisegruppe an. Wolff war früher selbst Profi und holte bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen mit dem deutschen Team Gold und im Einzel Bronze. Ein Jahr später wurde er Weltmeister.

Trainer der neuseeländischen Nationalmannschaft

Nach seinem Karriereende 2007 wechselte der Thüringer 2010 in das Nachbarland. Zuerst war er als Trainer aktiv, später kurzzeitig als Direktor für den Leistungssport beim niederländischen Olympiaverband. 2017 wagte er ein neues Abenteuer am anderen Ende der Welt und heuerte als Trainer der neuseeländischen Nationalmannschaft an. „Der Staat investiert dort ordentlich in den Sport. Man erwartet es nicht, aber für seine Verhältnisse hat Neuseeland ein gutes Bahnradteam.“

Rene Wolff trainiert die Holländer.

Wolff bereitete die Sportler auf die Olympischen Spiele in Tokio vor, wo Neuseeland eine Silbermedaille in der Disziplin Keirin, dem sogenannten Kampfsprint, holte. „Damit haben wir die Erwartungen erfüllt.“ Im vergangenen Dezember kehrte Wolff dann nach Europa zurück. „Es lag hauptsächlich an den Arbeitsbedingungen dort wegen der Pandemie. Als Ausländer in Neuseeland darf man sich nur als gemeldeter Resident ein Haus kaufen. Die Anmeldung haben wir jahrelang vergeblich versucht. So konnte ich mit meiner Frau und meinen zwei Kindern immer nur kurzfristige Mietverträge unterschreiben, wo wir manchmal von einer Woche auf die andere rausgeworfen wurden“, klagt der Deutsche.

Cristiano Ronaldo des Bahnradsports

Im Februar übernahm Wolff erneut das Kommando über den holländischen Bahnradsport. Sportlich ist es ein Aufstieg. Die deutschen Nachbarn zählen zur Weltspitze im Radsport. Nur die Briten haben ebenfalls zwölf Medaillen in Tokio geholt. In erster Linie ist da vor allem Lavreysen zu nennen, der sowohl mit dem Team als auch im Einzelsprint in Japan das höchste Treppchen bestieg. „Man kann ihn als den Cristiano Ronaldo des Bahnradsports bezeichnen“, sagt Wolff.

Zumal er ein Ronaldo in jungen Jahren ist. Der 25-Jährige hat noch einiges vor. „Ich will immer gewinnen und habe noch einige gute Jahre vor mir“, sagt der sonst eher wortkarge Sportler. Lavreysen gewinnt dabei schon seit seinem Karrierebeginn 2015 so gut wie alles. Sei es beim Nations Cup, der Weltmeisterschaft oder den Olympischen Spielen. Oder der neuen Champions League, die der Weltradsportverband UCI im vergangenen Jahr eingeführt hat, um den Bahnradsport zu bewerben.

Außerhalb von Olympia praktisch ein Amateursport

Eines der drei Rennen – geplant waren fünf, doch Corona verhinderte zwei – fand in Palma statt. „Eine Analyse des Internationalen Olympischen Komitees hat ergeben, dass unser Sport während der Spiele in Sachen TV-Übertragung, Zuschauer und Resonanz erstaunlich gut läuft. Überraschend ist daher, warum wir außerhalb von Olympia praktisch wie ein Amateursport wahrgenommen werden“, sagt Wolff.

Schon zuvor gab es Initiativen, den früher so beliebten Bahnradsport wieder populärer zu machen. 2017 und 2018 trug Palma die Finale der Sechstagerennen Six Day Series aus. Doch dieses Spektakel fand beim Publikum nur noch wenig Zuspruch. „Man versuchte, ein erfolgreiches Konzept aus den 30er- bis 60er-Jahren neu zu beleben. Das hat nicht geklappt. Die Champions League trifft den Zeitgeist besser“, sagt Wolff.

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Eine Rolle spielt dabei auch die Übertragung über Eurosport und beim Global Cycling Network, einer Art Netflix für Radsportler. Das finden auch die Fahrer. „Die Champions League macht Spaß, und für die Zuschauer ist sie attraktiver, da sie an einem Abend ausgetragen wird und nur aus Finalrennen besteht“, sagt Lavreysen. Zum Champions-League-Rennen am 12. November 2022 will er im Velodrom Illes Balears wieder schwindelerregende Runden drehen.